Gegenkanonade

Sachbuch Spezial Jagoda Marinić sieht #MeToo im Schwinden und ist auf der Suche nach Heldinnen
Ausgabe 12/2019

Obwohl Jagoda Marinić das Gegenteil erreichen will und im Nachhall zu #MeToo dazu aufruft, die Debatte in Deutschland neu zu führen, wird ihr Buch über Heldinnen von einer erstaunlichen Wehmut darüber getragen, dass Mann und Frau längst wieder zur Tagesordnung übergegangen seien. Paradoxerweise nimmt beim Versuch der Wiederbelebung der Eindruck eines im Verschwinden begriffenen Themas auch noch überhand.

Sheroes reiht sich konzeptionell ein unter kulturhistorischen Ergänzungen, die mit Fleiß weibliche Aspekte und Einflüsse nachtragen – dem flâneur die flâneuse zur Seite stellen oder den weiblichen Bildungskanon erstellen –, um die durch Marginalisierung und Destruktion weiblicher Perspektiven entstandenen Lücken zu füllen. Die Repräsentanten dieses weiblichen Gegenkanons nennt Marinić „Sheroes“ und betreibt damit ein radikales Diskurs-Gendern.

Jagoda Marinić zeigt auf Heldinnen, die aus #MeToo hervorgehen könnten. Dabei sind Uma Thurman als Leinwand-Shero, (auch wenn sie ihre Anweisungen von einem Regisseur erhält), Pop-Shero Beyoncé, die US-Juristin und Richterin am Obersten Gerichtshof Ruth Bader Ginsburg und Super-Shero Michelle Obama.

Obwohl Marinić weiß, dass hinter dem Social-Media-Phänomen #MeToo der Kampf vieler im globalen Bewusstsein völlig unbekannter Frauen und Männer aus lang zurückliegenden Jahren steht, werden dem Leser nur bestens bekannte Gesichter gezeigt. Die Bürgerrechtsaktivistin und #MeToo-Gründerin Tarana Burke fehlt denn auch in dieser Galerie der Superstars.

Sheroes will kein Experten-Buch sein und geht daher vermutlich mit Absicht sprunghaft und assoziativ vor, es will eine deutsche Debatte über Männer und Frauen bei Männern und bei Frauen dort anfachen, wo sie außerhalb enger Kreise feministischer oder akademischer Gehege noch nicht angekommen sei. Braucht es das? Die Heldenforschung jedenfalls hat bereits spannende Konzepte und Überlegungen zum Antihelden oder zur Deheroisierung ausgeführt, die der Beschreibung der Heldin dienlich sein könnten.

Der etwas neidische Blick in die USA oder nach Skandinavien, wo Frauennetzwerke erfolgreich Hand in Hand arbeiten oder wo Geschäftstermine sich an Familienzeiten ausrichten, übersieht, dass man in Deutschland in nächster Nähe diejenigen Frauen nach ihren feministischen Erfahrungen befragen kann, die in den neuen Bundesländern erwachsen wurden, als diese noch sozialistisch waren, um alternative Bilder zu sehen, statt auf den scheinbar deutschen Nationaltypus des ewigen Mädchens zu schauen, der mit dem Feminismus nichts anfangen könne, und zu schelten.

In mündlichem Plauderton läuft Sheroes mehrfach Gefahr, zu kurz zu geraten: „Die Frau existiert politisch erst seit 100 Jahren.“ Hier möchte man gerne einwerfen dürfen: „Nein, nein: Olympe de Gouges, Jeanne d’Arc oder Rosa Luxemburg gab es sehr wohl.“ Und dass Frauen erst seit rund 100 Jahren wählen dürfen, hat diese nicht daran gehindert, Jahrhunderte zuvor politisch sichtbar aktiv zu sein.

Es bleiben Zweifel, ob ein Hashtag oder gar ein Buch dem absehbaren Haltbarkeitsverfall aktueller Protestbewegungen entkommen kann und ob es sich dabei überhaupt um ein „öffentliches Gesprächsangebot“ handelt, wie es die Autorin verstanden haben will, oder leider doch um ein weiteres Aufmerksamkeitsevent, das aus den Medien kaum den Weg zurück in die Alltagsungleichheit der Geschlechter findet.

Info

Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land Jagoda Marinić S. Fischer 2019, 128 S., 12 €

Should I stay or should I go

Kommt der Brexit, wird auch Nordirland die Europäische Union verlassen müssen. Die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland war eine grundlegende Bedingung des Friedensabkommens von 1998, nach mehr als 30 Jahren „Troubles“, blutigen Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten. Die offene Grenze würde mit dem Brexit zur harten EU-Außengrenze, was den fragilen Friedensprozess im Land gefährden könnte. Der 1977 in Esslingen geborene Toby Binder fotografierte für Wee Muckers. Youth of Belfast (Kehrer 2019, 120 S., 35 €) Teenager aus protestantischen und katholischen Vierteln in Bel­fast. Die Langzeitdokumentation zeigt die Allgegenwart von Arbeits­losigkeit, Drogenkriminalität und Gewalt, die Jugendliche in Belfast schon heute belastet, egal, auf welcher Seite der „peace wall“ (Friedensmauer) sie leben.

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