FREITAG: Die 12 Punkte mischen sich in die SPD-Debatte um das Schröder-Blair-Papier und wollen es kontern. Ist die PDS die »bessere«, weil geschichtsbewußtere SPD?
André Brie: Das Schröder-Blair-Papier, nach meiner und ich glaube auch Gysis Einschätzung, ein ganz tiefer Einschnitt in sozialdemokratische Programmatik, nimmt Abschied von Traditionen, die ein ganzes Jahrhundert galten, in denen sich die SPD für die Schwächsten in der Gesellschaft auch gegen die Wirtschaft engagierte. Auf so ein Papier war eine Antwort nötig. Das hat nichts mit Einmischen oder Beerben oder parteitaktischen Überlegungen zu tun.
Das Papier beschreibt Positionen, wie sie bisher der SPD zugeordnet wurden. Werden sie innerhalb der PDS ähnliche Sprengkraft entwickeln, wie das Schröder-Blair-Papier in der SPD?
Nein. Aber es ist Gysis massivster Beitrag zur Programmdebatte der PDS. Man kann dem Schröder-Blair-Papier nur mit neuen Antworten begegnen, und die werden in den 12 Punkten versucht. Es ist für Gysi ja nicht sensationell, daß er sich jeder schwarz-weiß-Sicht auf die Gesellschaft verweigert. Das tut er, seit er sich für die PDS engagiert. Für ihn ist demokratischer Sozialismus eine Art dritter Weg - so heißt ja auch sein Buch von 1990 - der aber völlig anders gemeint ist, als das, was Schröder-Blair unter drittem Weg verstehen. Wichtig an Gysis Vorstellungen ist, wie er auf Umwälzungen in der Arbeitsgesellschaft, auf Globalisierung, neue Technik, die ökologischen Herausforderungen und die Frage Krieg und Frieden reagiert. Und dabei unaufgebbare Ziele wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Freiheitsrechte für die sozial Schwachen in der Gesellschaft verteidigt.
Das Papier kommt unter dem wenig spektakulären Titel »Gerechtigkeit ist modern« daher. Es benutzt die Begriffswelt der neuen Sozialdemokratie: Nachhaltigkeit, Modernität. Ist die PDS inzwischen so weit »renoviert«, daß ihr Innovationsdrang das Beharrungsvermögen übersteigt?
Immerhin haben sich in der PDS die Modernisierer durchgesetzt. In vielen Fragen jedenfalls. Ihr Programmentwurf geht im Grundzug in ähnliche Richtung. Die Gesellschaft ist nicht nur kapitalistisch, das ist sie in ihrem Wesen, sie trägt Züge der gesellschaftlichen Moderne: ständige Wandlungsprozesse, demokratische Partizipationsmöglichkeiten, kulturelle Differenzierungsprozesse mit Freiheitsmöglichkeiten. Im Programmkommentar ist das die dominante Richtung. In den 12 Punkten wird der Begriff als polemische Antwort auf die Strapazierung des Begriffs durch die neuen Sozialdemokraten gebraucht. Modern sein heißt nicht, nur nach der Wirtschaft zu schauen, jede Privatisierung mitzumachen, zu deregulieren und alles über Bord zu schmeißen. Man kann auch modern sein, sagt Gysi, indem man das Prinzip Gerechtigkeit aufrecht erhält. Moderne heißt, in einem allgemeinen Sinne zeitgemäß zu sein. »Gerechtigkeit ist modern«, ist zeitgemäß: Diese Gesellschaft wird zersplittern, wenn sie nicht die Fähigkeit zur Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität erneuert. Sie ist bedroht von ihrem grundsätzlichen Verfall, das hat nichts mit rechts-links zu tun, sondern mit dem Ende von Gesellschaftlichkeit. Maggie Thatcher spricht jetzt schon davon, daß Gesellschaft nur noch eine Fiktion ist, Familie, Lobby allein fortexistieren. Konservative wie Linke müssen ein Interesse daran haben, daß diese Zersplitterung verhindert wird. Der Kitt dafür ist die Gerechtigkeit.
Ist das Konzept Gerechtigkeit nicht gerade gescheitert? Hat nicht gerade Lafontaine vor Henkel kapituliert?
Das zeigt nur, wie schwer es ist. Ich hatte im Wahlkampf mit Barbara Thalheim zu tun. Sie sagt: Wer auf die Fresse fliegt, ist dazu da, wieder aufzustehen... Gescheitert ist der staatssozialistische Versuch im Osten, ja. Der sozialdemokratische Versuch - und das ist eine meiner Kritiken an Schröder - hat großartige Ergebnisse gebracht. Die werden bei Schröder und Blair von Anfang an diskreditiert. Sie hätten zu Staatsverschuldung geführt, zu Gleichmacherei, was nicht stimmt. Sie haben im Gegenteil den Kapitalismus zivilisiert, reform- und innovationsfähig gemacht. Gysi sucht neue Antworten, die darauf gerichtet sind, den sozialdemokratischen Entwicklungspfad fortsetzen zu können.
Christa Luft nennt die Fläche, auf der man mit der SPD kompatibel werden will, eher groß, wie groß muß sie sein, wie groß darf sie gerade noch sein?
Das kann man nur konkret beantworten. So wie die SPD heute ist - Schröder dominiert seine Partei eindeutig - kann unsereins keine Illusionen haben: Es gibt wenig Berührungspunkte. Aber sie wären wünschenwert, denn die PDS allein, selbst wenn sie an Kraft gewinnt, ist nicht in der Lage, Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen. Unser Bestreben muß also sein, mit der Erneuerung unserer Politik nicht nur die PDS stark zu machen, sondern auch zu Entwicklungen innerhalb der Sozialdemokratie und der Grünen beizutragen. Dann würde die Fläche für die PDS auch größer werden.
In den 12 Punkten wird ausdrücklich die Akzeptanz des Marktes, des Privateigentums, die Anpassung an Gegebenheiten wie Grund rente plus Privatvorsorge betont. Ist es nicht eher eine Rechtswende der PDS?
Die Frage ist, was ist dominant? Eben nicht die Verstärkung des Marktes - der ist viel zu stark geworden, er reguliert inzwischen Politik und Kultur, Informations- und Gesundheitssystem. Bereiche, die wieder herausgenommen werden müssen. Der Markt wird dennoch ein entscheidendes Regulierungssystem bleiben, dazu bekennen wir uns, aber in einem Kontext, wo die Interessen der Gesellschaft an Demokratie, sozialer Gerechtigkeit durchgesetzt werden. Wir sprechen schon seit langem von der Pluralität der Eigentumsformen. Privat darf keine fundamentalistische Ideologie sein. Das Solidarische muß bewahrt werden. Je weiter der soziale Bereich tangiert ist, desto weniger Solidarisches darf aufgegeben werden.
Es gibt den Vorwurf, die PDS schmücke sich mit sozialer Gerechtigkeit à la SPD und dem Ökobewußtsein à la Grün, ohne eigene Konzepte zu haben. Und nun auch noch mit dem sozialdemokratischen Erbe?
Wir bewahren bei all dem den sozialistischen Grundgestus, was unser Engagement unverwechselbar macht: Einen sehr differenzierten grunddemokratischen Antikapitalismus. Darüberhinaus sind wir gern bereit, Vernünftiges von den Grünen, aus der Sozial demokratie, von den Kirchen, vor allem auch aus den Diskussionen über Nachhaltigkeit, wie sie u.a. das Wuppertaler Institut führt, aufzugreifen. Einheit und Reinheit von Ideologie ist alter Unsinn. Die Aufgabe der PDS ist, sich zu öffnen, es wäre aber gefährlich, eine Sammlungsbewegung aller enttäuschten Minderheiten zu werden. Die immer noch zeitgemäßen Thesen der SPD, der Grünen aufnehmen und in einer erneuerten demokratische, sozialistische Politik bewahren, das ist der Anspruch. Globalisierung bildet nun mal eine Weltgesellschaft heraus. Das werden wir nicht rückgängig machen können. Diese Gesellschaft hat aber keinen Überbau. Vollbeschäftigung, den klassischen Vollerwerbslebenslauf, der auch noch män ner dominiert ist, wird es nicht mehr geben. Aber wir betonen die Möglichkeiten, das System der Arbeit zu erneuern. Oder das Problem der Ökologie. Wir haben eine ökologische Weltkrise, alte Wachstumskonzepte - übrigens sehen auch Schröder und Blair im Wachstum der Wirtschaft das Heil - werden Ökologie mißachten müssen. Eine der entscheidenden Kritiken von Gysi an Blair-Schröder ist, daß die beiden sich an die Regierungen wenden, nicht an den mündigen Bürger.
Wie wendet man sich an den mündigen Bürger? Innovationen kann man nicht anweisen. Ein Klima ebenso wenig?
Hier ist manches offen. Man kann einiges vordenken, aber wenn das Umfeld nicht da ist, wird daraus nichts. Die Philosophie des 12-Punkte-Papiers heißt, einzutreten für Gegenmächte. Die Wirtschaft ist eine ungeheure Macht, es fehlt die adäquate Gegenmacht. Die Gewerkschaften sind schwach. Eine gesellschaftspolitische Herausforderung, die in ärmlicher und deformierter Weise der Staatssozialismus des Ostens war, existiert auch nicht mehr. Gegenmacht müßte die starke Zivilgesellschaft sein, die Politik gegenüber der Wirtschaft in erneuerter Weise zurückgewinnt. Soros, ein Mann, der mit Spekulationen Milliarden verdient hat, schreibt in seinem Buch »Krise des globalen Kapitalismus«, das heute schlichtweg alle Bereiche der Kapitalverwertung unterliegen und stellt fest, daß das gesellschaftszerstörend ist. Soll die Linke das nicht feststellen dürfen?
Das Gespräch führte Regina General
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