Demokratieabbau: Gegenstrategien, die Mut machen

Global Assembly Auf der ganzen Welt geraten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter Druck. Zum Glück wächst auch der Widerstand dagegen. Barbara Unmüßig und Layla Al-Zubaidi über eine wachsende Welle des Protest
Ausgabe 18/2023
Ruf nach mehr Demokratie
Ruf nach mehr Demokratie

Grafik: Dorothee Waldenmaier

Im Mai treffen sich Aktivist*innen, Feminist*innen, Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen aus etwa 40 Ländern und allen Kontinenten bei der „Global Assembly“ in Frankfurt am Main, um ihre Ideen und Strategien für eine gerechtere und menschenwürdigere Welt zu diskutieren. Viele Teilnehmer:innen kommen aus Ländern, in denen es absolut keine Selbstverständlichkeit ist, sich frei zu äußern oder zu versammeln. Sie müssen täglich damit rechnen, im Gefängnis zu landen oder getötet zu werden, weil sie sich für soziale Umverteilung, freie und faire Wahlen oder Zugang zu Land einsetzen. Manche kommen aus Ländern im Krieg oder unter Willkürherrschaft. Ihre Rechte, ihr Wunsch nach demokratischer Teilhabe, Freiheit, Gerechtigkeit und Unversehrtheit werden mit Füßen getreten. Ihr Mut, dafür zu kämpfen und einzustehen, braucht unsere Solidarität.

Vielen Menschen rund um den Globus werden elementare Grundrechte wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Redefreiheit, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert sind, verweigert. Diese Grundrechte sind aber Voraussetzung, um politische Teilhabe zu ermöglichen. Wir beobachten, wie manche der nach dem Ende des Kalten Krieges erreichten Fortschritte in der Demokratisierung in Osteuropa, in Afrika und Lateinamerika (dritte Welle der Demokratisierung) wieder zurückgenommen werden. Partizipations- und Beteiligungsrechte werden regelrecht einkassiert.

Das Netzwerk Civicus, das seit vielen Jahren mit dem Civil Society Monitor den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum in 197 Ländern misst, stellt fest, dass nur 3,1 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit restriktionsfreien Zugängen für zivilgesellschaftliches Engagement (open civic space) leben. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ misst den Grad der Pressefreiheit und vergleicht die Situation für Journalist*innen und Medien in insgesamt 180 Staaten und Regionen. Sie verschlechtern sich weltweit kontinuierlich. In Russland ist die Pressefreiheit seit dem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine de facto abgeschafft. Journalist*innen in allen Kontinenten müssen befürchten, für ihre Arbeit ermordet zu werden. Mexiko ist für sie eines der tödlichsten Länder der Welt.

Immer öfter treiben auch demokratisch gewählte Politiker*innen und Parteien den Abbau von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit willentlich voran, indem sie demokratische Institutionen unterminieren, unabhängige Medien und Gerichtsbarkeit angreifen und Hass gegen Minderheiten, LGBTIQ+ oder Migrant*innen schüren. Ungarn unter Viktor Orbán, Brasilien unter Jair Bolsonaro, die USA unter Donald Trump sowie die derzeitige Regierung in Israel mit Benjamin Netanjahu an der Spitze dienen als Beispiele für diesen besorgniserregenden Trend.

Trotz all dieser Einschüchterungsversuche und Risiken nehmen weltweit die Proteste gegen Willkür, Ungleichheit, die Klimakatastrophe und Umweltzerstörungen, Korruption und Unterdrückung in den letzten Jahrzehnten eher zu als ab. Es gibt immer mehr lokale Proteste gegen Staudämme, illegale Abholzung und Landraub sowie gegen die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Bergbau und anderen großen Infrastrukturprojekten. Dieser lokale Protest ist im digitalen Zeitalter noch schneller mit einer internationalen Öffentlichkeit und politischen Netzwerken verknüpfbar und damit sichtbar. Das wollen die politischen und ökonomischen Eliten in vielen Ländern offensichtlich verhindern. Sie sehen ihre Entwicklungsmodelle und Profite bedroht. Das Argument „Keine Einmischung in innere Angelegenheiten“ wird von Regierungen und häufig gleichgeschalteten Medien dann ins Feld geführt, wenn sich externe Akteure politisch und finanziell mit sozialen und ökologischen Aktivist*innen und Organisationen vor Ort vernetzen. Auch demokratisch gewählte Regierungen benutzen diese Argumentationsfigur, um Proteste als extern gesteuert zu diffamieren.

Repression hat viele Gesichter

Überall auf der Welt fürchten Regierungen und wirtschaftliche Akteurinnen um ihre Privilegien und ihre politische und ökonomische Macht. Dutzende Regierungen in Afrika, Westasien und Nordafrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa manifestieren ihre Macht durch Bespitzelung und Einschüchterung, drakonische Haftstrafen, Folter und offene polizeiliche oder militärische Gewalt. Dabei nehmen Geheimdienste oder Milizen nicht selten auch die Familien von Kritiker*innen und Oppositionellen in Sippenhaft, um sie zum Schweigen zu bringen. Rechte Gruppierungen, private und substaatliche Akteure beteiligen sich massiv an Online-Hass, gezielten Desinformationskampagnen, Repressalien und sogar Morden – darunter Sicherheitsdienste, Drogenkartelle, Milizen und Mafiastrukturen.

Weltweit lernen die Regierungen voneinander, schauen sich Unterdrückungsmethoden voneinander ab und gehen damit regelrecht nach einem „playbook“ vor. Digitalisierung und die sozialen Medien sind dabei ein zweischneidiges Schwert. So wie sie progressiven Akteurinnen neue Möglichkeiten eröffnen, sich zu vernetzen und zu mobilisieren, bieten sie auch autoritären Systemen ungeahnte Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle. Die Öffentlichkeit manipulieren, Wahlen beeinflussen, Shitstorms entfesseln – dafür wurde in den letzten Jahren eine regelrechte Desinformationsindustrie aufgebaut.

Nicht immer wird Widerstand blutig unterdrückt. Repression versteckt sich immer öfter hinter einer demokratischen Fassade. Die sogenannten NGO-Gesetze sind hier das markanteste Instrument. Die Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft und zwischen in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen zu regeln (Vereinsrecht, Gemeinnützigkeit, Berichtspflichten, Transparenz zu Geldflüssen usw.), ist legitim. Die Frage ist jedoch, ob diese Regelungen die fundamentalen Grundrechte und die Unabhängigkeit garantieren oder eben einschränken. Eine große Zahl von Ländern – ob autokratisch oder demokratisch – hat in den vergangenen Jahren NGO-Gesetze modifiziert oder neu verabschiedet, die genau gegen diese Grundsätze verstoßen und vor allem darauf abzielen, einheimische Organisationen von ausländischen Geldflüssen abzuschneiden bzw. diese zu kontrollieren. Die meisten von ihnen verbieten es, gegen die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ oder „nationale Interessen“ zu agieren oder gegen „gesellschaftliche Moralvorstellungen“ zu verstoßen. Dies richtet sich vor allem gegen Frauen- und LGBTIQ-Rechte. Die Gesetzestexte sind vage und bewusst offen formuliert, bieten also ausreichend Spielraum für Interpretationen und damit politische Willkür.

Weit mehr als 150 sogenannte Antiterrorgesetze richten sich nicht allein gegen Terroristen, sondern in vielen Fällen auch gegen die kritische und demokratische Opposition und Zivilgesellschaft, die des Terrorismus bezichtigt werden. Wo Gesetze und Rechtssysteme nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit und legitimem Interesse an Transparenz zu tun haben, sondern als Waffe eingesetzt werden, um Kritiker*innen auszuschalten und von der Ausübung ihrer gesetzlichen Rechte abzuhalten, sprechen Aktivist*innen heute von „lawfare“ – angelehnt an „warfare“, also Kriegsführung.

Repressionen und neue Gesetze zielen darauf ab, jede kritische Stimme, die sich gegen Regierungshandeln erhebt, mundtot zu machen. Zivilgesellschaftliches Engagement bleibt gleichwohl erlaubt, wenn es unpolitisch ist und im sozialen wie im Umweltsektor weiterhin beispielsweise staatliche Aufgaben übernommen werden, ohne Ansprüche auf demokratische Teilhabe zu erheben oder strukturelle Ursachen von Armut und Ungleichheit anzugehen. Entpolitisierte NGOs sind erwünscht, sie werden von Regierungen eigens gegründet. Sie dürfen auch ausländisches Geld annehmen, wenn auch unter staatlicher Kontrolle. Die Trennung in gute und in böse oder staatsfeindliche NGOs und soziale Bewegungen durch Regierungen und Medien ist längst in vollem Gange.

Ermutigend trotz all der beschriebenen massiven Verschlechterungen und repressiven Einschränkungen sind die vielfältigen lokalen, nationalen und internationalen Kämpfe und Proteste für soziale und ökologische Rechte, für geschlechtliche Selbstbestimmung, Freiheit, Widerstand gegen Willkür und Korruption und die weitere Ausbeutung des Planeten. Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit sind Voraussetzung und die Essenz jeder Demokratie. Ihre Einschränkung muss alle demokratischen Regierungen herausfordern, stärker global zu kooperieren. Sie erfordert unser Handeln auf allen Ebenen. In allen multilateralen Foren müssen Teilhabe und Partizipation garantiert sein, Ausschluss und Repression gehören auf die Tagesordnung. Die „Global Assembly“, wie wir sie in Frankfurt organisieren, ist so ein Ort, Gegenstrategien von unten weiterzuentwickeln, Mut zu machen und sich miteinander zu solidarisieren.

Barbara Unmüßig war bis März 2022 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und organisiert die Global Assembly mit

Layla Al-Zubaidi ist stellvertretende Leiterin des Bereichs Internationale Zusammenarbeit der Heinrich-Böll-Stiftung

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