Geglückte Tage, unterwegs

Im Gespräch Peter Handke erzählt vom Reisen allein, von Nomaden und Nesträubern

Peter Handke, der in seinem Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht über die Dinge in der Vorstadt nachsinnt, ist einer, der immer wieder aufbricht, nicht nur nach Jugoslawien. Wie bei Wim Wenders, seinem Freund, sind auch bei ihm viele Figuren unterwegs, auf Reisen und weltoffen. In seinem vorletzten Buch lässt er Don Juan von sieben Tagen erzählen, die er unterwegs war.

FREITAG: Dass Sie mit Bleistift schreiben, hat das mit Ihrer Form des Unterwegsseins zu tun?
PETER HANDKE: Nur damit! Ich wollte in New York mit dem Buch Langsame Heimkehr anfangen, und dazu benötigte ich eine Schreibmaschine. Es gab aber kein deutsches System. In jedem Land stehen ja die Buchstaben auf der Schreibmaschine anders. Ich kaufte eine skandinavische, auf der ich ständig daneben tippte. Und später, in Spanien, beim "Versuch über die Müdigkeit", da versuchte ich auch das spanische System, und zwar in einer kleinen Provinzstadt in Andalusien. Doch das ging überhaupt nicht. Ich dachte, jetzt versuchst du es mal mit Bleistift und Radiergummi. Wobei ich immer glaubte, mit der Hand zu schreiben, das hätte keine Autorität. Da sei keine Distanz zwischen dem Blatt Papier und mir. Aber mit dem ersten Satz und mit der Stille, dachte ich, das geht, und ich werde dadurch auch unabhängig. Wenn in dem Hotelzimmer Krach war, konnte ich ins Freie gehen, ganz weit weg in die Steppe, und mir einen Eukalyptusbaum suchen, der mir Schatten gab, dort sitzen und schreiben.

In "Don Juan" schicken Sie Ihren Helden in sieben Tagen an sieben verschiedene Orte. Warum gehen so viele Ihrer Figuren auf Reisen?
Für mich hat Erzählen mit Unterwegssein zu tun; und mir scheint es fast natürlich zu sein, dass - wenn ich erzähle - mit der sprachlichen auch eine körperliche Reise stattfindet. Es fällt mir schwer, eine Geschichte nur an einem Ort spielen zu lassen, und wenn es nur einer ist, dann wird er links, rechts, kreuz und quer durchgangen, durchforscht und so peripheriert wie Paris in Die Stunde der wahren Empfindung. Die Ruhestellen, wo nur gesessen, gesprochen, gespeist und geträumt wird, sind dadurch besonders wichtig. Dieser Rhythmus kommt durch eine abenteuerliche, keine gekaufte Bewegung zustande. Man muss versuchen, gekaufte Reisen zu vermeiden. Eine Reise muss verdient und anstrengend, die Gefahr muss innerlich groß sein. Erst durch die bestandene Gefahr kommt es zu einer Ankunft und zur Ruhe.

Wie kam es zu Ihrer fast dreijährigen Reise ohne festen Wohnsitz?
Nachdem meine Tochter die Schule in Salzburg beendet hatte, war ich zum ersten Mal seit 18 Jahren frei. Wenn ich auch früher viel unterwegs war, so bin ich doch nie wohnsitz- oder obdachlos gereist. Ich hatte immer ein Zuhause zum Zurückkommen, während dieser fast drei Jahre aber nicht. Keine Wohnung zu haben, das war schön, und danach sehne ich mich noch oft zurück. Durch das viele Reisen ist man jedoch in Gefahr, aus dem Alltag, der ja vielleicht mehr als Reisen phantasienanregend ist, herauszufallen. Man wird der alltäglichen Verrichtungen entfremdet. Nach drei Jahren hatte ich große Schwierigkeiten, im Supermarkt einzukaufen, ein Warenhaus zu betreten oder über die Straße zu gehen. Das tägliche Im-selben-Café-Sein ist mir jetzt das größere Vergnügen.

Was führte zum Ende dieser Reise?
Ich hatte nicht mehr die Frische und Ekstase des nicht mehr Ich-Seins. Laut Heimito von Doderer ermöglicht Reisen die Loslösung vom "Pfahl des eigenen Ichs". Das ist das Wunder des Reisens: Man ist die Welt. Aber das hat sich dann leider nicht mehr ergeben. Ich war einfach matt, reisemüde, habe nichts mehr aufgenommen und sagte mir: Wenn du jetzt immer weiterreist, kommst du nie mehr irgendwohin. Wenn ich das Haus hier in Chaville, wo mir gleich das Herz aufging, noch am Abend vor meinem Aufbruch nach Spanien nicht gefunden hätte, so wäre ich wahrscheinlich immer noch unterwegs. Das erste Gefühl hat mich im Großen und Ganzen nicht betrogen. So bin ich geblieben.

Was empfanden Sie beim Abschreiben der Reisenotizen?
Es ist würdig, unterwegs zu sein, niemanden zu haben und nur vom Schauen zu leben. Wenn man ganz allein ist und ganze Tage fast mit niemandem spricht, womit spricht man dann? Mit den Büchern, mit Bildwerken, Skulpturen und mit den Formen. Sie geben zwar keine Antwort, aber etwas zu sehen. Dabei lebt man auf und veredelt sich. Reisen sollte man wirklich nur allein; bloß keine organisierten Reisen. Und man sollte auch selbst möglichst wenig organisieren und nur von einem zum anderen Tag improvisieren. Es kann etwas Irrwitziges haben, weil einem von heute auf morgen tausend Möglichkeiten offen stehen. Sie sind irgendwo in Griechenland und sagen sich: Mensch, heute könntest du entweder nach Bulgarien hinüber oder auf eine Ägäische Insel fahren oder nach Ägypten oder den Bus zurück nach Jugoslawien nehmen. Plötzlich kann es sehr schwierig werden, im Grunde eine vollkomische Hamlet-Situation. Diese Freiheit ist seltsam, aber sie fehlt mir manchmal.

Sie hatten sich gar nicht auf Ihr langes Reisen vorbereitet?
Ich ließ mich gehen, im Wortsinne. Jugoslawien wollte ich erforschen, und Griechenland. Vor allem Europa stand mir im Sinn, und dann hatte ich die wohl kindische Idee, in Japan durch den Schnee zu laufen. Ich wollte möglichst mit Fähren reisen und vor allem, wo immer es geht, zu Fuß gehen und bei Bedarf auch mit dem Bus fahren. Ich wollte mit den Einheimischen sein. Es ging mir ums Spüren, darum, am Marktstand einzukaufen, die Wörter zum Beispiel für Karotten zu lernen und Kunstwerke zu sehen, vor allem die antiken. Noch erotisierender fand ich die romanischen Kunstwerke.

Fanden Sie in den romanischen Bau- und Kunstwerke eine Zuflucht?
Ja, warum nicht Zuflucht? Aus Zuflucht kann ja Abenteuer und Aufbruch werden. Ich habe mich hinbegeben zu den Formen der Romanik, aber nicht im Sinne von Pilgerfahrt. Es wunderte mich immer, dass Goethe mit den romanischen Formen gar nichts anfangen konnte. Für ihn waren die Gestalten Fratzen. Das ist für mich der tote, nicht der wunde Punkt bei diesem liebsten, großherzigsten Vorseher, da hatte er einen blinden Fleck.

Kamen Ihnen auf der Reise Goethes "Wanderjahre" in den Sinn?
Goethe war durchweg verwöhnt. Von Neapel ist er bis in die Schweiz auf Sänften und Händen und Frauenschultern getragen worden. Ich war hingegen auf meiner Reise fast immer allein und habe mich nie einsam gefühlt. Wie hat es Basho, der gewaltige japanisch Haiku-Dichter, auf der Reise in den Hohen Norden gesagt? "Allein unter dem Himmel, das heißt zwei Wanderer." Denn der Himmel zieht auch mit. So habe ich es erlebt.

Deckt sich das Erleben eines Tages auf der Reise mit dem, was Sie über das Glücken eines Tages in Ihrem "Versuch" schreiben?
Es ist ähnlich, aber verstärkt. Als freier Mensch haben Sie tausend Möglichkeiten, und Sie sind auch nicht an ein Flugticket gebunden, was ja heute das Scheußlichste überhaupt ist. Da sind Sie gezwungen, sich da und dorthin zu begeben, um an einem bestimmen Tag zurückzufliegen. Sonst müssen Sie eine Strafe zahlen. Das ist ein total unwürdiges Reisen. Nicht nur unwürdig, ich finde es verbrecherisch, was mit der Erdbevölkerung geschieht, und doch nehmen´s die Leute widerspruchslos hin. Wenn man frei entscheidet, ist der Tag aufregender.

Wann ist ein Tag missglückt?
Ob auf Reisen oder zu Hause, ich gestehe mir immer drei Niederlagen, drei Ungeschicklichkeiten oder Vergesslichkeiten zu. Wenn es darüber hinaus geht, denke ich, der Tag ist jetzt missglückt. Dass einem drei Dinge entgleiten, dass man einmal lügt, dass man einmal stürzt, dass man ein Glas zerbricht, das geht noch. Beim vierten, was missrät, denke ich, jetzt entgleitet dir der Tag. Beim siebten Mal wird es vielleicht wieder gut.

Irgendwo in der "Niemandsbucht" wettern Sie gegen Nomaden.
Ich hasse diesen Ausdruck. Als ich den Unseld-Preis bekam, hieß es in der Rede, ich sei ein Nomade. Erst einmal bekommt man dafür keinen Preis, und außerdem bin ich ein Wanderer - zudem einer, der sich manchmal gern verirrt. Dann ist man ganz Neugierde und bekommt andere Sinne. Wenn man bei Einbruch der Dämmerung immer noch ohne Orientierung ist, wird es bedenklich.

Was stellen Sie sich unter Nomaden vor?
Einen Amerikaner mit Lederrucksack, so einen Bruce-Chatwin-Typ, der immer Englisch spricht und überall erwartet, dass man ihm auf Englisch antwortet. Er will von jedem die Geschichten wissen. Man darf doch keinen Aborigine anhauen: "Hi Joe, how are you? What is your problem? I want to hear your story." So ein Scheißdreck! Überall hängen sie herum, essen Fladenbrot und haben ihre Goldene Mastercard dabei.

Wie sehen Sie sich?
Ich bin ein einzelner Wanderer wie die Araber, für die das große und schöne System des Lebens die nächtliche Wanderung ist. Du bist völlig in der Dunkelheit, aber du erzeugst mit deinem Gehen, mit deinen Gedanken, mit deinem Tapsen und Stolpern dein Licht. Jeder sollte einmal eine solche Wanderung gemacht haben. Da, wo man die Hand nicht mehr vor Augen sieht, fängt das innere Licht zu leuchten an. Dann bin ich ganz Ich und ein Tier. Zugleich erwachen alle Instinkte des Sich-Schützens. Das innere Abenteuer ist gewaltig, und es ist schwierig, davon zu erzählen. Am besten ist es Teresa von Avila in ihrer Beschreibung der menschlichen Seele gelungen. Da wandert sie durch ihren eigenen Körper hindurch zur Seele und schildert deren Räume, von den kleinen bis hin zu den größeren, helleren, kälteren, rundlicheren. Sie hätte den Nobelpreis für Psychophysik verdient.

Sie kritisieren die Schriftsteller, die das nach Hause gezerrte Fremde wie eine Ware feilbieten.
Ja, sie kommen mir wie Nesträuber vor, die den Einwohnern ihre Geschichten rauben. Das gehört sich doch nicht. Ich frage niemandem nach seiner Geschichte, wenn ich irgendwo bin. Das ist doch eine Urscheu, die man nicht verletzten sollte. Ich möchte nicht der Ausfrager sein. Wenn man als Dritter zufällig Zweien dabei zuhört, wie sie sich einander etwas erzählen oder anschreien, einen dabei als Zuhörer akzeptieren oder sogar brauchen, so ist das wunderbar. Dann darf man lauschen. Vielleicht sind sie sogar besänftigt, wenn sie streiten, wenn man ihnen zuhört oder zugrinst oder wenn man einfach nur da ist. Aber Leute auszufragen nach ihren sozialen Verhältnissen oder ob der Vater die Mutter geschlagen hat, ist doch widerlich.

Irgendwo zitieren Sie Platon, der seelisch Erkrankte zu einer stürmischen Schiffsreise ermuntert, weil dabei die Atome durcheinander gerüttelt werden.
Ja, das ist sehr richtig. Am besten ist Reisen zu Fuß oder mit dem Autobus, möglichst auf einer steinig kurvigen Landstraße, mit oder ohne Aussicht. Vielleicht kommt die Aussicht von der Innensicht. Schön wäre es, man könnte die Welt so durchqueren, vielleicht noch mit Fähren. Es gibt immer noch Fährmänner, die man vom anderen Ufer herbeirufen muss, wie ich es in Jugoslawien erlebt habe.

Wie entschieden Sie auf Ihrer Reise, wohin es gehen soll?
Manchmal habe ich gewürfelt oder die Landkarte aufgeschlagen, um nachzuschauen, ob es dort ein Ruinenfeld oder sonst etwas zu sehen gibt. Ich habe mich auch gefragt, wer dort mal gelebt hat, und mich interessierten auch Orte, wo es in der Antike Orakelstätten gab. Dort fragte ich mich, ob sie aus dem Rauschen der Eichen Stimmen und ihre Zukunft vernommen haben. So kam ich nach Dodona und fragte mich, was das für Eichen sind und ob da immer noch etwas zu hören ist. Steineichen mit ihren harte Blättern machen ja ein ganz anderes Geräusch als Korkeichen.

Das klingt ganz nach einem glücklichen Tag...
Es war ein herrlicher Tag, einer der schönsten meines Lebens. Zwar ist da bis auf ein altes Theater nichts mehr, aber man denkt beim Sehen der Eichen: Es gibt wirklich Momente, wo keine Geschichte, keine Vergangenheit ist. Dreitausend Jahre sind jetzt vergangen. Die Menschen, die damals lebten, werden das wohl gehört haben wie ich jetzt. An ihrer Stelle hört man dann aus dem Eichendröhnen die Stimme des Gottes Apollon, der mir aber nicht die Zukunft vorhersagte, sondern die Gegenwart: "Jetzt ist Jetzt, du brauchst keine Zukunft."

In "Am Felsfenster morgens" schreiben Sie über Philip Kobal, er sei glücklich darüber, heimatlos zu sein. Fühlen sie sich heimatlos?
Mir geht oft der Satz von Simone Weill durch den Kopf: "Andere zu entwurzeln, ist das Schlimmste aller Verbrechen, aber sich selber zu entwurzeln, die größte Errungenschaft." Ich scheiße auf die Heimat. Ich habe jetzt den Film von Emil Kusturica mit dem fast optimistischen Titel Das Leben ist ein Wunder gesehen: Da gibt es eine Muslimin, die - als sie im Bosnien-Krieg gegen einen Serben, dessen Vater sie liebt, ausgetauscht werden und zurück soll - zu ihren Eltern sagt: "Ich will nicht nach Hause." Das ist der schönste aller Sätze. Alle Blues-Songs fangen hingegen an mit "I want to go home". Und diese Frau schreit: "Ich will nicht nach Hause." Ich hoffte, das wäre auch mein letzter Satz.

Ist Ihnen das Wort Heimat suspekt?
Nein, es ist ein schönes Wort. Wer Heimat hat - um so besser. Aber wenn einer eine Heimat hat, die er verteidigen will, wird er gefährlich. Zumindest ist er in Gefahr, nichts mehr zu würdigen, was nicht seine Heimat ist. Bei uns in Kärnten gibt es ein Volkslied. "Mei Heimat ist mei Schatzerle." Also: "Meine Heimat ist mein Herzensschatz." Für mich verhält es sich genau umgekehrt. Meine Geliebte oder meine liebste Frau, das ist mir Heimat.

Das Gespräch führte Heinz-Norbert Jocks


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