Zugegeben, neutral bin ich nicht, was die gerade eröffnete Ausstellung der Häkel-Korallen im wunderschönen Baden-Baden angeht. Denn bei meinem Besuch des in den Park gefallenen weißen Frieder-Burda-Museums hat der charmante Mann an der Kasse ganz selbstverständlich gefragt, ob ich zum Studentinnen-Rabatt berechtigt sei. Und diese scheinbar nebenbei gestellte Frage kam mir nur vier Tage nach dem 40. Geburtstag gerade recht. Noch nicht ganz tot!, feierte ich innerlich und fand schon alles schön. Wenn Sie jetzt denken: Nervig, typisch Frau, kokettiert hier so selbstbezogen mit ihrem Alter rum, in einem Text, in dem es doch eigentlich um Kunst gehen soll, dann denken Sie über diese Ausstellung vielleicht auch: Häkeleien? Diese Handarbeit soll Kunst sein? Und insofern ist es kein allzu schlechter Einstieg.
Denn richtig, in der Ausstellung Wert und Wandel der Korallen, die in diesem Museum noch bis Juni 2022 gezeigt wird, reckt sich’s rund in alle Richtungen. Da werden mal puschelig, mal knorrig, mal voll, mal hohl die Möglichkeiten der hyperbolischen Geometrie durch miteinander verbundene Wollmaschen gefeiert.
Die Schwestern Margaret und Christine Wertheim – ursprünglich aus Australien – haben nämlich ein riesiges Korallenriff zusammengestellt. Irre groß auf Inseln angerichtet. Gehäkelt. Und die erinnern an eine Mischung aus den bunten Fraggles-Puppen von Jim Henson und Haute Couture von Sonia Rykiel. So bunt, wie Korallen nur aussehen, wenn sie noch leben, was immer seltener der Fall ist: wegen der Erderwärmung.
„Verrückt!“, sagen die Betrachterinnen, und: „Ist das viel Arbeit!“ Die Korallengebilde sind nämlich nur möglich, weil es eine kooperative Installation ist. Das heißt, über 4.000 Menschen haben an dem Kunstwerk Satellite Reef, das im obersten Stockwerk des Museums ausgestellt ist, mitgehäkelt und über 40.000 Korallenteile eingesendet. Die Ausstellung ist auch eine Anerkennung von traditionellem Kunsthandwerk. Von einer Technik, die vor allem Frauen auf der ganzen Welt beherrschen, die aber selten als Kunst gilt.
Einige mitgeschickte Briefe hängen daneben an der Wand, teilweise mit Fotos von häkelnden Omis in Rollstühlen oder auf Bettkanten. Frau Bissinger aus Freiburg hat für jedes Lebensjahr eine Koralle gehäkelt. Wie viele, hat sie leider nicht dazugeschrieben. Nonna Stolle ist über 93 und hat mir ihrer Enkelin gehäkelt. Und die Klasse 5c aus Grünheide hofft, dass in den Medien viel über das Satellite Reef berichtet wird, weil sie schockiert seien, „was mit den Korallenriffen unserer Welt passiert“. Auch eine Frau, die in der Onkologie arbeitet, hat etwas ans Museum geschickt, und zwar eine Schildkröte aus Infusions- und Spritzenverschlusskappen, um darauf hinzuweisen, wie viel „Müll für die Lebensrettung anfällt“. Interessanter Gedanke, oder? Wir machen uns kaputt mit dem, was uns reparieren soll. Na ja, ein Hinweis auf den katastrophalen Zustand der Weltmeere ist das hier also. Doch bei dieser Gemeinsamkeit, die durch die Erstellung der Installation erfahrbar wird, aber auch durch die Darstellung von Korallen, die ja in Symbiose mit Algen leben, hat das Knäuel zwei Enden. Wir zerstören gemeinsam die Umwelt. Aber die Masche der einen hält die Masche der anderen.
So kommt mit dem Besuch in Baden-Baden eine kitschige Hoffnung auf: Nur gemeinsam kann man so große Riffe häkeln. Und nur gemeinsam die Korallen retten (zumindest wenn die globale Temperatur nicht um 1,5 Grad ansteigt). Und dafür ist es dann wirklich ganz egal, wie alt man ist.
Info
Die Ausstellung Wert und Wandel der Korallen von Margaret und Christine Wertheim ist noch bis 26. Juni im Museum Frieder Burda zu sehen
Kommentare 5
Wer braucht heute schon die Umwelt?
Simulation ist alles.
Oder?
Schöne Geschichte, Laura Ewert,
"Da werden mal puschelig, mal knorrig, mal voll, mal hohl die Möglichkeiten der hyperbolischen Geometrie durch miteinander verbundene Wollmaschen gefeiert."
Das ist genau, worauf es ankommt.
Satellite Reef...
.. da gibt's noch mehr von, an anderen Orten.
https://crochetcoralreef.org/satellitereefs/
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Die Masche der einen hält die Masche der anderen.
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Mir gefällt's.
Nichts wie auf nach Baden-Baden...
... und nächste Woche dann auch andere Geschichten:
https://napglobalnetwork.org/event/women-voices-the-power-of-visual-storytelling/
Die Macht des visuellen Geschichtenerzählens
Künstlerisch und als PR-Aktion finde ich die Häkel-Korallen durchaus gelungen. Aber:
Erstens hatten wir bis vor kurzem (und noch immer) eine weltweite Pandemie, die den Mainstream-Medien zufolge fast jeden zweiten Deutschen dahingerafft hätte. Zweitens haben wir jetzt Krieg und zwar nicht irgendeinen Krieg irgendwo auf der Welt, sondern Krieg in Europa.
Da bleibt keine Zeit für die Rettung von Korallenriffen und der Umwelt. Die Politiker und die Mainstream-Medien können sich nicht um alles kümmern und müssen schließlich Prioritäten setzen.
Wieviel CO2 wird eigentlich beim Bau und dem laufenden Betrieb eines Flugzeugträgers der "Gerald-R.-Ford-Klasse" Tag für Tag in die Luft geblasen? Die derzeit amtierende deutsche Außenministerin (Frau Baerbock von den Grünen) hat doch gute Beziehungen zu den USA. Die sollte das doch wissen oder etwa nicht?
In ein paar Punkten muss ich da eine etwas andere Sicht auf die Dinge einnehmen, @Christian Brecht.
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Es ist zu früh, die Covid19-Saga vollständig zu bewerten, inklusive der statistischen und realen Zahlen, die im Umlauf sind, insbesondere auch die globalen Daten zu den Betroffenen.
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Krieg in Europa ist wie Krieg in Afrika ist wie Krieg in Asien ist wie Krieg in Südamerika ist wie Krieg im Pazifik ist wie Krieg im All etc.
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Das, was Sie als „Rettung der Korallenriffe“ sehen, hängt sehr wohl mit der Lösung des Ukraine-Russland-Konfliktes zusammen. In beiden Fällen geht es um die vermeintliche Legitimation der Zerstörung von Natur und Mitwelt im Vollzug eines industrialisierten Weltbildes.
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Politiker und Mainstream-Medien haben erheblich zum Zustandekommen dieser Situation beigetragen. Im Augenblick kann einem vor deren ‚Prioritäten-Setzung’ eher bange werden, meinen Sie nicht?
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Die Zusammenhänge zwischen schwindenden, fossilen Brennstoffen, GHG-Emissionen und Militär sind in einschlägigen Kreisen sicherlich bekannt, und bald wird man uns die neue Generation der ‚ökologischen Kriegswaffen‘ präsentieren.
Die sind besonders ‚nachhaltig‘.
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Auszug aus einem gestrigen Artikel von Yahoo News unter der Überschrift:
‘Ecologically clean killing machine ready for the Russians’
„Sie befehligt zwei Teams von jeweils etwa einem halben Dutzend Personen, die in der Ukraine hergestellte, auf einem Stativ montierte Raketen abfeuern...
… fährt einen Chevy Volt Elektro-Fließheck, den sie als „ökologisch saubere Tötungsmaschine“ bezeichnet.
… öffnete die Heckklappe und enthüllte ein beiges Rohr, in dem sich eine Stugna-P-Rakete befindet. Es hat eine Reichweite von 3 Meilen und trifft ein Ziel innerhalb von 1 Fußbreite.“
https://www.yahoo.com/news/battle-kyiv-looms-long-bloody-154133993.html
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.. also, tun Sie sich was Gutes an, und besuchen sie die Häkel-Korallen ... mfg, ms
Und hier noch etwas ganz Tolles, für diejenigen, die sich etwas mehr mit der von Frau Ewert erwähnten ‚hyperbolischen Geometrie’ auseinandersetzen wollen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hyperbolische_Geometrie
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Mein besonderer Hinweis gilt der
Distanzfunktion
Abstand zweier Punkte in einer hyperbolischen Geometrie:
Sind A und B zwei Punkte der Kreisscheibe, so trifft die durch A und B verlaufende Sehne den Kreis in zwei Punkten R und S. Der hyperbolische Abstand von A und B wird nun mithilfe des Doppelverhältnisses A, B, R, S definiert:
d ( A , B ) = 1 2 ln ( A , B , R , S ) = 1 2 ln R B ¯ ⋅ S A ¯ R A ¯ ⋅ S B ¯ {\displaystyle d(A,B)={\frac {1}{2}}\ln(A,B,R,S)={\frac {1}{2}}\ln {\frac {{\overline {RB}}\cdot {\overline {SA}}}{{\overline {RA}}\cdot {\overline {SB}}}}} {\displaystyle d(A,B)={\frac {1}{2}}\ln(A,B,R,S)={\frac {1}{2}}\ln {\frac {{\overline {RB}}\cdot {\overline {SA}}}{{\overline {RA}}\cdot {\overline {SB}}}}}.
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What you see is what you get. Cheers, ms.