Geheimnisse müssen geflüstert werden

Kino „Bal – Honig“ von Semih Kaplanoglu ist leicht wie der Wind in den Bäumen. Im Februar hat er den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Nun kommt er in die Kinos

Im Kino erlauben Kinder skeptische Betrachtungen der Erwachsenenwelt. Das kindliche Bewusstsein ist zunächst nichts als Projektionsfläche: Es gestattet einen unkonditionierten Blick auf einen verloren geglaubten Zauber, an dem sich die Verschleißerscheinungen der täglichen Wahrnehmungsarbeit noch nicht abgezeichnet haben. Gleichzeitig klingt im kindlichen Staunen ein latentes Befremden gegenüber den Ritualen der Älteren mit. Gelingt es einem Filmemacher, Staunen und Skepsis in Einklang zu bringen, kommt dabei ein kleines Wunder wie Semih Kaplanoglus Film Bal – Honig heraus, der so leicht ist wie der Wind in den Bäumen, die im Film die Grenzen einer überschaubaren Welt markieren. Für den sechsjährigen Yusuf steckt dieser Wald voller Geheimnisse. Es ist der Arbeitsplatz des Vaters, Lebensgrundlage der Familie und Taktgeber einer Zeit, die trotz aller Einfachheit fremd erscheint – bis man feststellt, dass der Film in der Gegenwart spielt.

Yusufs Vater verdient den Lebensunterhalt seiner Familie mit der Bienenzucht. Jeden Tag zieht er mit seiner Ausrüstung in die Wälder, um die Bienenstöcke zu prüfen, die hoch in den Bäumen hängen. Manchmal begleitet ihn der Junge dabei und beobachtet die Arbeit des Vaters neugierig. Der dunkle Honig aus der türkischen Schwarzmeerregion gilt als Spezialität, aber für die Imker bedeutet die Ernte vor allem körperliche Gefahr. So beginnt der Film: Ein Mann bewegt sich mit seinem Esel aus dem dichten Gestrüpp langsam auf den Zuschauer zu. Kaplanoglu hat eine Vorliebe für diese Bewegung aus der Tiefe des Bildraumes.

Gnadenlose Schönheit

Sie lässt ihm viel Zeit für beiläufige Sinneseindrücke: die Brechung des Lichts in den Blättern, das Rauschen des Waldes, das Rascheln des Laubs, der Gesang der Vögel. Im internationalen Kino vollzieht sich in den letzten Jahren zunehmend eine Rückkehr zur Natur, doch Kaplanoglu vermeidet jede Verklärung durch eine ausgesprochen unsentimentale Ästhetik. Bald hängt der Mann, der sich als Yusufs Vater herausstellen wird, in 20 Metern Höhe hilflos an einem gebrochenem Ast vom Baum. Irgendwo summt eine Biene. Selbst in dieser aussichtslosen Situation bewahrt sich die Natur ihre gnadenlose Schönheit. Werner Herzog, dem Apokalyptiker unter den Naturfilmern, hat das so gefallen, dass er als Präsident der Berlinale-Jury Bal den Goldenen Bären verlieh.

Bal ist der Abschluss von Kaplanoglus Trilogie um seine Hauptfigur Yusuf, die durchaus einen Vergleich mit Truffauts Antoine-Doinel-Zyklus nahelegt. Kaplanoglu allerdings erzählt die Geschichte Yusufs in dessen Kindheit zurück. In Eier (2007) suchte der erwachsene Yusuf den Ort seiner Jugend auf, um die Mutter zu beerdigen. Milch (2008) beschrieb Yusufs Jugendjahre und sein schwieriges Verhältnis zur Mutter. Der letzte Film handelt nun von den Anfängen dieses Konflikts, denn in Honig ist der Vater die einzige Bezugsperson des schüchternen Jungen. In der Schule hat Yusuf keine Freunde; er ist durch sein Stottern so verunsichert, dass er sich zurückzieht. Wenn er spricht, flüstert er seinem Vater ins Ohr. Geheimnisse, erklärt der ihm einmal, müssen geflüstert werden, sonst verlieren sie ihre Macht.

Damit ist auch Kaplanoglus Film sehr schön beschrieben, in dem die leisen Töne dominieren, um etwas Geheimnisvolles zu wahren. Der Wald strahlt eine mythische Ruhe aus, die den Film einnimmt. Und er wird zum Verbündeten Yusufs. Am Ende schläft der Junge am Fuß eines Baumes ein, beschützt von der Dunkelheit. Vor dem Erwachsenwerden.

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