Geheul

Alpin Das Leukerbader Literaturfestival zelebriert den Mythos der Rebellion

Ein Schutzpatron des Literaturfestivals in Leukerbad ist der heilige Laurentius, ein Erzmärtyrer aus dem 3. Jahrhundert nach Christus, über den die Legende schauerlichste Geschichten zu verbreiten weiß. Die römische Staatsmacht, so geht die Fama, habe dem frommen Mann, der die Übergabe des zuvor an die Armen verteilten Kirchenguts verweigerte, mit übelsten Foltermethoden zugesetzt. Der Heilige wurde mit Skorpionen gepeitscht, mit Bleikugeln geschlagen und schließlich auf einen Rost über glühende Kohlen gelegt. Eine kleine Skulptur dieses tapferen Heiligen thront nun hoch über den Köpfen der literarischen Pilgerscharen auf dem Leukerbader Dorfplatz, wo man sich alljährlich zum Spaziergang durch die Dala-Schlucht sammelt.

Die finstere Heiligenlegende passt auch ganz und gar zu den Mythen, Märchen und Sagen, die Ricco Bilger, der spiritus rector des Festivals, beim Spaziergang über schwankende Hängebrücken und vor tobenden Wasserfällen unter die Wanderer streute. Das mythische Handgepäck zu dieser kleinen Expedition auf dem Thermalquellenweg lieferten die Schriftsteller Hansjörg Schneider und Peter K. Wehrli. Schneider las seine skurrile Erzählung Das Wasserzeichen, einen phantastischen Bericht von einem wunderlichen Wassermenschen, dessen hydrologische Fähigkeiten versagen, als eine nixenhafte Schöne vor seinen Augen fast ertrinkt. Peter K Wehrli ergänzte diese Wassermystik mit einem schönen Capriccio vom Unterwegssein, das von der Vergeblichkeit des Reisens handelte. Reisen, so Wehrli in seinen schönen Prosaminiaturen, sei nichts anderes als der Versuch, das Gefühl der "Erstmaligkeit von allem" zurückzugewinnen.

Es macht den berückenden Charme dieses höchstgelegenen Festivals in Westeuropa aus, dass seine Gäste nicht mit literaturhistorischen Belehrungen eingedeckt werden, sondern erst einmal Tuchfühlung mit der erhabenen Naturkulisse aufnehmen können. Leukerbad, auf 1.411 Meter Höhe in den Walliser Alpen gelegen, erteilt auch dem skeptischsten Literaturtouristen die Lizenz, seine Levitationsbedürfnisse ohne schlechtes Gewissen auszuleben. Ein strenger Blick auf Literatur fällt hier schwer, weil an jeder Ecke balneologisches Wohlbehagen durch Thermalbäder lauert. Seit 1996 haben hier Ricco Bilger und sein bewährtes Team eine reizvolle Verbindung von Literatur und alpiner Wellnesskultur installiert, die sich zum Erfolgsmodell entwickelte. Mancher Literaturpurist beargwöhnt dieses hedonistische Konzept als riskante Huldigung an die Event-Kultur. Ricco Bilger hat es indes auch im zehnten Jahr vermocht, rund 30 Weltpoeten aus allen Winkeln der Erde anzulocken.

Zum Jubiläumsjahr hatte man die Erben der Beat Generation in die Walliser Abgeschiedenheit eingeladen, um in diversen Performances den kulturrevolutionären Geist von Allen Ginsbergs legendärem Langgedicht Howl wiederaufleben zu lassen. Die Erinnerung an die poetischen Heldentaten der Beat-Rebellion geriet dabei zur rituellen Weihestunde. Vor 50 Jahren hatte Ginsbergs "Geheul" die amerikanische Kultur noch in großen Aufruhr versetzt. Heute weht unter den Beats das laue Lüftchen der Nostalgie. Beim Festival, wo die Akteure in einer eigens zur "Beat-Garage" umfunktionierten Turnhalle auftraten, waren durchaus imponierende Gestalten aus der Frühzeit der Beat Poetry präsent: der Fotograf Harry Redl und der spirituell enthusiasmierte Ira Cohen. Der Beat-Archivar Steven Kushner zelebrierte dagegen die Dokumente aus seiner Sammlung in etwas zu tiefer Demut.

Den rhapsodische Schwung, der bei den Beat-Epigonen längst erlahmt ist, hat unter ganz anderen poetischen Vorzeichen die Dichtung des slowenischen Dichters Tomasz Salamun beflügelt. Seine metaphysisch inständigen und zugleich kühn-surrealistischen Gedichte, die an die Rätsel unseres Daseins rühren, zählten zu den Höhepunkten des Festivals. Von den Prosaautoren brillierte Thomas Hettche mit der Lesepremiere aus seinem noch unvollendeten Roman Meerkatz oder die Liebe. Der Ich-Erzähler berichtet hier von einer Reise nach New York, ein Jahr nach den terroristischen Ereignissen des 11. September. Die Geschichte eines ominösen Mordes verschlingt sich auf seltsame Weise mit den unsicheren Orientierungsversuchen des Erzählers in New York. Auch dieser Reisende ist angetrieben von jener Sehnsucht nach der "Erstmaligkeit von allem", die Peter K. Wehrli beschrieben hatte. Eine Sehnsucht, die wohl auch die meisten Festival-Besucher zur Wiederkehr ins Wallis stimulieren wird.


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