Geht! Wählen! Jetzt!

Mali Auch Demokratie kann eine Form des Kolonialismus sein. Frankreich hat die Bürger des Landes nach der Intervention vom Januar zu schnell an die Urnen gezwungen
Ausgabe 31/2013
Demokratie als Ehrensache: Mali galt lange Zeit als afrikanisches Musterland
Demokratie als Ehrensache: Mali galt lange Zeit als afrikanisches Musterland

Foto: Joe Penney/ REUTERS

Die amerikanische Entwicklungsagentur USAID bezeichnete Mali 2006 in einer Studie als „eine der aufgeklärtesten Demokratien“ in ganz Afrika. „Das Land sticht inmitten der unruhigen subsaharischen Region als stabile Demokratie hervor“, hieß es weiter. Daneben war das Foto eines Imams aus Djenné zu sehen, einer Stadt des Weltkulturerbes mit traditioneller Lehmarchitektur und viel mittelalterlicher Patina. Der Geistliche blickte in einen Computerbildschirm und recherchierte online für eine Predigt. Weiter lobte das Papier die Wohltaten der USAID-Projekte in Mali. Der Imam wurde ohne sein Wissen zum Symbol der Hilfsgelder, die einer „Musterdemokratie“ wie Mali fraglos zustanden.

Sieben Jahre später wird der gleiche Staat am häufigsten mit Begriffen wie „Farce“, „Fassade“ oder „leere Hülle“ bedacht. Im März 2012 verschaffte sich diese Realität plötzlich Geltung, als nicht eben ranghohe Soldaten durch einen Putsch die Macht an sich rissen und der Staat die innere Balance verlor. Eine neue Regierung in Bamako musste tatenlos zusehen, wie binnen eines Monats ein Gebiet von der Größe Frankreichs unter die Kontrolle von Tuareg-Rebellen und Dschihadisten mit Verbindungen zu al-Qaida geriet.

Plötzlich befand jeder, wie verschlissen die malische Demokratie doch sei. Der Staatsstreich, der auf wenig Widerstand gestoßen war und deshalb als eher „zufällig“ bezeichnet wurde, ließ zu Bewusstsein kommen – es war eben nicht alles gut. Der damalige Präsident Amadou Toumani Touré – mehr wegen der Kürze als wegen seiner Beliebtheit ATT genannt – galt als zutiefst korrupt und führungsschwach. Auch traute man ihm nicht zu, für einen Wandel zu sorgen, den Mali – das zu den fünf am wenigsten entwickelten Ländern der Erde zählt – brauchte. Bei Wahlen 2002 und 2007 hatten sich Unregelmäßigkeiten gehäuft, zudem war die Beteiligung gering.

Da viele westafrikanische Regierungen inzwischen den Eindruck erweckten, sie seien weitgehend zu Sammelstellen ausländischer Hilfsgelder verkommen, sah offenbar auch die malische Exekutive ihre vornehmste Aufgabe darin, für das Wohlwollen der Geber zu sorgen, darüber hinaus aber wenig zu tun. Mit Kokain beladene Flugzeuge landeten im Sahel und konnten das einigermaßen unbehelligt tun. Staatschef Touré wurde verdächtigt, Geschäfte mit Drogen-Lords zu machen. Doch wollten sich die westlichen Geldgeber ihr Narrativ von der Musterdemokratie nicht von unschönen Details verderben lassen. Sie waren lieber damit beschäftigt, ihre Hilfsprogramme zu loben, den Wüstentourismus zu fördern und – besonders auf französischer Seite – die Tuareg im Norden Malis zu romantisieren, sie als mysteriöse, in blaue Gewänder gehüllte saharische Version mittelalterlicher Ritter zu verklären.

Wahlkarten für Millionen

Im Augenblick ist die internationale Gemeinschaft durch teils skurrile Umstände dabei, die Saat für mögliche neue Konflikte zu streuen. Mali wurde ein Zeitplan für die Rückkehr zu einer gewählten zivilen Regierung auferlegt. Ob er das Land befriedet und die Sezession im Norden eindämmt, ist nicht gesagt, schon gar nicht garantiert. Jedenfalls gab es als Teil dieses Plans am

28. Juli die erste Runde einer Präsidentenwahl. Seit die Nationale Wahlkommission am 2. August das Ergebnis verkündet hat, zeichnet sich ab, dass eine Galionsfigur des Establishments triumphieren wird – Ibrahim Boubacar Keïta, von 1994 bis 2000 bereits Premierminister. Er kam im ersten Wahlgang auf knapp 40 Prozent der Stimmen und muss im Stechen am 11. August gegen Ex-Finanzminister Cisse antreten, der in Runde eher magere 19,4 Prozent verbuchen konnte.

Durch Finanzhilfen von 3,25 Milliarden Euro wurde vor diesem Präsidentenvotum eine Druck- und Drohkulisse aufgebaut, die jeden zeitlichen Aufschub der Abstimmung verhindern sollte. Dabei hatte der Vorsitzende der Nationalen Wahlkommission gewarnt, das System zur Wählerregistratur hinke „dem Zeitplan weit hinterher“. Innerhalb eines Monats Wahlkarten an sieben Millionen Menschen zu verteilen, sei auch für entwickeltere Länder eine Herausforderung. Bei den Wahlen in Ghana Ende 2012 beispielsweise habe es dafür monatelange Planungen und sechs Wochen Zeit für die Ausgabe der Wahlkarten gegeben.

So dürfte der in Mali trotzdem abgehaltene erste Wahlgang von annähernd 1,5 Millionen Wählern, die nicht registriert waren, oder von Zehntausenden, die als Erstwähler nicht neu ins Wahlregister aufgenommen wurden, kaum als legitim betrachtet werden. Wer wie Tausende Malier in Marokko lebt oder wie gut 200.000 Menschen vom Krieg in die Nachbarländer vertrieben wurde – der konnte an diesem 28. Juli seine Stimme ebenfalls nicht abgeben.

Hinzu kam die Sicherheitslage. Frankreich, die Ex-Kolonialmacht, hat im Januar mit der Militäroperation „Serval“ interveniert. Der schlossen sich afrikanische Truppen aus den ECOWAS-Staaten an, die seit 1. Juli unter dem Schirm eines UN-Korps vereint sind. Doch die strategisch wichtige Region Kidal in Nordmali bleibt Bollwerk der Tuareg. Dort musste, um Wahlen möglich zu machen, erst ein fragiles Friedensabkommen geschlossen werden, um Regierungstruppen und UN-Wahlbeobachter einzulassen. Was nichts daran änderte, dass acht Tage vor dem jetzigen ersten Wahlakt in Kidal fünf Mitarbeiter der Nationalen Wahlkommission mit vorgehaltener Waffe entführt wurden.

Schießen und wählen

Nirgends im Norden ist das Leben wirklich zur Normalität zurückgekehrt – kein glücklicher Umstand für reguläre Wahlen, ganz abgesehen von saisonalen Faktoren. Es ist Ramadan – kurz gesagt, die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten erntet und fastet. Wer ungeachtet dessen ein Wahllokal ansteuern wollte, scheiterte oft schon daran, nicht zu wissen, wohin. Teilweise wurden die Wahlaushänge in solcher Eile gedruckt, dass man nach Angaben zu den Wahlorten vergeblich suchte.

Warum wurde Mali zu Wahlen gedrängt, wenn die unzulänglich vorbereitet und leicht anfechtbar sind? Die USA haben für derartige Prozeduren in den neunziger Jahren einst Somalia zum Vorbild erklärt. Man müsse zunächst militärisch intervenieren, so die Theorie, und dadurch Sicherheit schaffen. Danach sollte es ohne größeren Zeitverzug Wahlen geben, damit eine Regierung zustande kommt, die eine Intervention politisch absichern kann. „Shoot and Vote!“ (Schießen und Wählen), wird dieses Vorgehen bis heute zutreffend beschrieben.

Frankreich geht die Sache direkter an und lässt die Malier wissen, was für ein Glück sie hätten, von ihren ehemaligen Besatzern gerettet worden zu sein. „Mali kann eine neue Art der Unabhängigkeit – nicht vom Kolonialismus, sondern vom Terrorismus – feiern“, verkündet Präsident François Hollande. „Kein Wunder, wenn viel Malier den Eindruck haben, sie würden von Paris aus regiert“, schreibt ein Kommentator in Bamako. Tatsächlich hat Frankreich nicht nur bestimmt, dass in Mali am 28. Juli gewählt wurde, sondern die Malier ihre künftige Regierung auch zu respektieren hätten. Man könnte auch Order geben: „Ihr geht wählen. Ihr werdet euch sicher fühlen. Ihr werdet euch frei fühlen.“

Die internationale Gemeinschaft hat leider aus der Vergangenheit nicht gelernt, dass es verhängnisvoll sein kann, in einem fragilen afrikanischen Staat die Bürger überhastet an die Wahlurnen zu winken.

Afua Hirsch ist Westafrika-Korrespondentin des Guardian

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Übersetzung: Zilla Hofman

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