Geistiger Notstand

Kommentar Inlandseinsatz der Bundeswehr

Was war gemeint, als Otto Schily bald nach den Anschlägen laut überlegte, die Trennung von Aufgaben der Polizei und der Bundeswehr müsse vielleicht aufgegeben werden? Während der Innenminister seit zwei Wochen dazu schweigt, hat jetzt Frau Merkel einen Vorstoß unternommen. Konkretes ist auch von ihr nicht zu hören, nur so viel: Um die Bundeswehr auch im Inland verstärkt einsetzen zu können, müsse man vielleicht das Grundgesetz erweitern. Dann aber der Hinweis: Solche Einsätze "in bestimmten Notsituationen" vorzunehmen, werde vom Grundgesetz ja "heute bereits" ermöglicht.

Wir beginnen zu verstehen! Das Grundgesetz enthält die Grundlage für die in den sechziger Jahren beschlossenen Notstandsgesetze. Damals erbittert bekämpft, waren sie das Eintrittsbillet, das die SPD zur Aufnahme in die Große Koalition zahlte. Einschlägig für die von Schily ausgelöste, seltsam verdeckte Debatte wäre der Artikel 87 a Absatz 3, in dem es heißt, es könnten unter bestimmten Voraussetzungen "Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer" eingesetzt werden. Die Voraussetzungen sind im Artikel 91 geregelt: Die Streitkräfte stehen bereit, hilfsweise einzugreifen, wenn die Polizei eines Bundeslandes sich nicht allein helfen kann oder wenn mehrere Bundesländer betroffen sind. Ja, aber bei welcher Gefahr? Einer "drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes".

Die großen Parteien spielen, wie es scheint, mit dem Gedanken, der Innere Notstand liege vor. Gleichzeitig sehen sie, dass es reichlich kühn ist, eine solche Diagnose mit dem Text des Grundgesetzes zu vereinbaren. Daraus scheinen einige Politiker abzuleiten, dass man den Notstand dann eben nicht dem Buchstaben, sondern dem Geiste nach erkennen und exekutieren müsse. Dafür Worte zu finden, ist natürlich schwer. Frau Merkel wollte vielleicht sagen, das Grundgesetz sei nicht auf genau den Notstand zugeschnitten, der in den sechziger Jahren vorschwebte, und müsse deshalb modifiziert werden.

Der bayerische Ministerpräsident Stoiber scheint dieselbe Schwierigkeit so lösen zu wollen, dass die großen Parteien den Notstand nicht erklären, sich aber verhalten, als ob er bestehe. Das könnte nämlich der Grund sein, weshalb er einen "Nationalen Sicherheitsrat" fordert, in dem "alle Informationen zusammenlaufen". Soll dieser Rat die Aufgaben des Gemeinsamen Ausschusses übernehmen, der, nach der Notstandsregelung, im Verteidigungsfall die Aufgaben eines Notparlaments übernimmt? Es bedarf kaum des Hinweises: Die Große Koalition, die sich hier wieder einmal anbahnt, würde den Angriff auf die demokratische Grundordnung, den sie abzuwehren vorgibt, selber darstellen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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