Und kürzlich musste sich der EuGH mit einem Streit zwischen Kraftwerk und Moses P. befassen – wegen zwei Sekunden Beat. Ja, ist denn Klauen nicht der Modus Operandi im Pop? Unser Wochenlexikon
A
Aufruhr Bei ➝ Plagiaten in der Musik denke ich zwangsläufig an Schulterpolster. Ausladende Schulterpolster. Das Duo Milli Vanilli gewann mit seinem zweiten Album 1990 einen Grammy – und verlor ihn alsbald wieder. Das Ende brach so an: Bei einem Konzert blieb das Playback stehen, was folgte, waren Schweigen und die Erkenntnis, dass andere diese Lieder eingesungen hatten. Die vorher frenetisch feiernde Öffentlichkeit kehrte sich um in ihre diametrale Funktion: abgrundtiefer Hass für zwei junge Herren, die doch nur berühmt werden wollten. Mit Planierraupen fuhr man für die TV-Kameras über das, was vorher ihr Werk war: ihre CDs. Sie sollten sich nie wieder wirklich erholen. Dabei sollte man sich vielleicht weniger fragen, warum da geklaut wurde, als weshalb die Gesellschaft so verachtend reagierte. Vielleicht, weil wir uns alle doch sorgen, jeden Tag eigentlich nur zu plagiieren. Jan C. Behmann
B
Break Eines der bekanntesten und am häufigsten gesampelten (➝ Sample) Stücke im Hip-Hop und in der elektronischen Musik ist das Solo des Drummers Gregory Coleman aus Amen, Brother (1969) der Soulband The Winstons. Ohne den „Amen Break“ hätte sich die Hip-Hop-Geschichte anders angehört, und die Genres Drum ’n’ Bass, Jungle oder Breakbeat würden gar nicht existieren. Da Ihre Zeitung höchstens raschelt, aber nicht diesen synkopierten Rhythmus wiedergeben kann, empfehle ich eine Suche im Netz. Sie haben diese sechs Sekunden Musikgeschichte garantiert gehört, zum Beispiel in N.W.A.s Straight Outta Compton. Als 1996 Sänger und Saxofonist Richard Lewis Spencer wegen der Rechte kontaktiert wurde, fiel der aus allen Wolken. Von der tausendfachen Verwendung wusste er nichts, nie hatte seine Band Tantiemen erhalten. Drummer Coleman verstarb 2006 in Obdachlosigkeit. Erst eine Crowdfunding-Aktion im Jahr 2015 unterstützte die verbliebenen Musiker mit 24.000 Pfund. Susann Massute
C
Cover Es ist diese Aura des Authentischen, von der Top-40-Bands zehren. Sie leben davon, Cover populärer Songs live zum Besten zu geben. Und das Publikum geht bei ihnen fast so ab wie mit dem Original. Immerhin sind das lebendige Musiker, nichts kommt aus der Konserve. Das Coverband-Business ist ein eigenes Geschäftsfeld und hat sich mittlerweile arg ausdifferenziert. Klassische Top-40-Bands haben ein weites, die Hitparaden abdeckendes Repertoire. Da folgt auf die Pop-Perle schon mal ein Schlager oder ein Schmuserocksong.
Mit einem solchen Kessel Buntem bespielen diese Generalisten Kirmessen, Geburtstage, Betriebsfeiern und fünfte Jahreszeiten, mal Fasching, mal Karneval genannt. Daneben haben sich Spezialisten herausgebildet, die sich auf eine Band mit großer Fanbasis konzentrieren. Darum nennen sie sich – wie Depeche Road oder Forced to Mode – Tribute-Bands, weil das exklusiver klingt. Besonders viele solcher Kapellen widmen sich den Böhsen Onkelz. Unter Namen wie Stainless Steel, Los Tioz oder Dirk und Durstig spielen sie weinerlichen Deutschrock. Gern treten an einem Abend mehrere solcher Coverbands auf, weil das Onkelz-Publikum offensichtlich nicht genug davon bekommen kann. Tobias Prüwer
K
Kaiser „Gott erhalte Franz, den Kaiser“, schrieb Lorenz Leopold Haschka (1749 – 1827). Die „Volkshymne“ wurde zum Geburtstag von Franz II., dem letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, am 12. Februar 1797 in allen Wiener Theatern gesungen. Joseph Haydn hatte die Musik komponiert.
Oft wurde der Text geändert. Franz und das Reich waren nicht unsterblich, der nur noch K.-u.-k.-Nachfolger Ferdinand I. wollte nicht als Franz gepriesen sein. Karl Kraus dichtete viel später: „Gott erhalte, Gott beschütze / Vor dem Kaiser unser Land!“ Die Musik blieb. Auf sie sang man auch das Lied der Deutschen, ab 1922 Hymne des Deutschen Reiches. Die dritte Strophe (Text: Hoffmann von Fallersleben) blieb. Die Melodie, so kam heraus, hatte Haydn einem kroatischen Volkslied abgelauscht. Kulturelle Appropriation? Multikulti? You decide! Mladen Gladić
L
Liebe und Diebstahl sind zwei Seiten derselben Medaille“, sagte Bob Dylan 2001 anlässlich der Veröffentlichung seines Albums “Love and Theft”. Die Anführungszeichen gehören zum Artwork der Platte und verdeutlichen den Anspruch, dass hier zitiert, aber eben auch gestohlen wird. Die Songs wirken wie Diebesgut aus dem ganz alten US-Songbook. Erst das Internet ermöglichte eine Offenlegung der zahllosen Bezüge zu den teils obskuren Quellen. Dylan vertraute seinen Fans, die die neue Technik nutzten, um alte, vergessene Schätze zu heben. Marc Ottiker
M
Masche Klingt das Lied aus der Werbung nicht nach dem aktuellen Nummer-zwei-Hit? Hat der Sockenhersteller Unsummen ausgegeben, um seine Ringelfüßlinge mit angesagter Musik zu bewerben? Wahrscheinlich nicht. Möglich macht das ein Trick der Werbebranche. Sie setzt sogenannte Soundalikes ein. Die klingen fast wie populäre Songs und sollen das auch: Aus Kostengründen werden prominente Melodien nachkomponiert. Knifflig für den beauftragten Musiker. Denn das Soundalike darf kein bloßes ➝ Cover oder nur eine Bearbeitung sein. Es muss ein eigenständiges Werk darstellen, aber stark an das Ohrwurm-Original erinnern. Sonst urteilt das Gericht: Plagiat. Das Risiko für eine solche Einzelfallentscheidung liegt allerdings immer beim Kläger. Tobias Prüwer
P
Plagiat Der 1972 als William John Paul „Liam“ Gallagher geborene Oasis-Leadsänger ist kein einfacher Typ. Wie seinen Bruder Noel muss man ihn nicht mögen, auch wenn er für einige der größten Songs der Popgeschichte verantwortlich ist. Liam ist ein Rüpel und Großmaul, dem wenig heilig ist. Fast nichts, außer Manchester City und John Lennon. Seine ➝ Liebe zu Lennon hört man seiner Stimme und seinem Songwriting an. Vielleicht kann man so auch gar nicht von einem Plagiat sprechen, wenn seine 2011 mit der Band Beady Eye aufgenommene Single The Roller so ziemlich eins zu eins klingt wie Lennons Instant Karma. Irgendwie, irgendwann, irgendwo ist er einfach zum neuen Lennon mutiert – und behauptet ja auch steif und fest, der Geist von John würde in ihm weiterleben. Was Lennon davon hielte, ist nicht bekannt. Immerhin hat sich Paul McCartney zu Wort gemeldet, der sich für eine baldige Oasis-Reunion aussprach: „Mein Rat? Rauft euch einfach zusammen und macht ein bisschen gute Musik.“ Marc Peschke
R
Rock ’n’ Roll Als Big Mama Thornton 1953 den Song Hound Dog von Jerry Leiber und Mike Stoller als reine Blues-Nummer einspielte, ahnte sie womöglich nicht, dass der Song drei Jahre später zum Nukleus der wohl größten kulturellen Revolution des 20. Jahrhunderts gehören würde. „Hound“ hat, wie vieles in der Blues-Sprache, zwei Bedeutungen. Einerseits „Jagdhund“ und andererseits „Gigolo“.
Mit hübschem Hundegeheul wurde bei ihrer Aufnahme noch alles dafür getan, den Jagdhund-Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Drei Jahre später zertrümmerte ein uns wohlbekannter Lastwagenfahrer mit gezielten Hüftschwüngen und einem kreisenden Becken sämtliche Bedenken wegen möglicher sexueller Konnotationen und entfesselte eine ganze Gesellschaft. Von Big Mama Thorntons trotzdem sehr grooviger Version wurden 500.000 Exemplare verkauft. Elvis’ Version sprengte alle bisherigen Dimensionen und war einer der ersten Songs, die chartübergreifend, also sowohl in den R-&-B- wie in den Country-Charts, auf Platz 1 sprangen. Marc Ottiker
S
Sample Jeder kennt es: das charakteristische Bassriff aus Under Pressure von Queen und David Bowie. Und wie perplex bin ich jedes Mal, wenn nach dem eingängigen Anfang dann Robert Matthew Van Winkle, besser bekannt als Vanilla Ice, mit seinem Ice Ice Baby aus den Lautsprechern trötet. Das dreiste ➝ Plagiat, das Vanilla Ice zunächst und ziemlich lange sogar vehement bestritt (➝ Zufall), ist das wohl berühmteste Werk des amerikanischen Rappers. Das Lied ging durch die Decke und erreichte in unzähligen Ländern Platz 1 der Charts.
In der Frage der Urheberrechtsverletzung einigten sich die Parteien später auf eine außergerichtliche Lösung. Eine Entschädigungszahlung in unbekannter Höhe und die Anführung von Queen und David Bowie als Co-Autoren verhinderten einen Gerichtsstreit. Es existiert ein herrliches Youtube-Video, in dem Vanilla Ice seinen Hit summt und dann den von Queen/Bowie. Beides hört sich exakt gleich an. Er daraufhin: „Sehen Sie, unterschiedliche Stücke!“ Van Winkle drohte nach dem Riesenerfolg von Ice Ice Baby das Schicksal eines One-Hit-Wonders: Zwar machte er noch mit Affären mit Madonna sowie Kinoauftritten in Teenie-Filmen Schlagzeilen, doch floppten seine Nachfolgealben ebenso wie die Schauspielkarriere. Als Van Winkles Management auch noch eine Fake-Biografie herausbrachte, die den Rapper als Gangster zu verkaufen suchte, war die Karriere von Vanilla Ice endgültig zur Lachnummer verkommen. Elke Allenstein
T
Trauma Traumatisch war es nicht gerade, aber es befiel mich doch ein merkwürdiges Zusammenzucken, als ich vor vielen Jahren – 1988 – zum ersten Mal diesen Phil-Collins-Song hörte: A Groovy Kind of Love. Das ist doch überhaupt nichts Neues, dachte ich bei mir. Die Melodie hörte sich an wie ein im falschen Tempo laufendes Musikstück, das ich einst als Kind auf dem Klavier geübt hatte. Bald kam ich drauf: Es war das Rondo aus einer Klaviersonatine des italienischen Komponisten Muzio Clementi (1752 – 1832).
Ich erinnerte mich an Zeiten, da ich pflichtgemäß, aber unlustig zur Klavierstunde trottete. Eigentlich wird das Rondo „allegro“ gespielt, da hört es sich richtig nett an. So aber erinnerte es mich an meine zögernde Schrittfolge auf dem Weg zum barschen Herrn S. Ich fand Klavierspielenkönnen schon gut, aber den Lern- und Übungsprozess nicht so „groovy“ (toll, super). Und meine Liebe zum strengen Klavierlehrer, der mich mehrmals zum Weinen brachte, war nichts weniger als das. Magda Geisler
Z
Zufall Moses P., der in einem Rechtsstreit um einen gesampelten Beat von Kraftwerk dieser Tage vom EuGH Rückenwind bekam, behauptete, den Originalsong gar nicht gekannt zu haben. Kann so etwas vorkommen? Kurt Cobain wusste jedenfalls, dass sein berühmtes Riff in „Come As You Are“ dem 1985er Song „Eighties“ der Band Killing Joke sehr ähnlich war, schließlich äußerte er vor Veröffentlichung 1991 Bedenken. Come As You Are wurde zum Hit, Killing Joke verzichteten auf Klagen, als Cobain überraschend starb. Wobei: Noch einige Jahre vor Eighties, 1982, hatte die Band The Damned einen Song namens Life Goes On, dessen Haupt-Riff gefährlich nach den beiden Songs klingt. Konstantin Nowotny
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K - Kaiserhymne
Das Lied "Žalostna zaručnica" ("Die traurige Braut") aus der Sammlung südslawischer Volkslieder von Franjo Kuhac soll die Vorlage für Haydn gewesen sein. Hier kann man eine Aufnahme hören: http://kuhac.net/english/sound.hml Freilich ist die Aufnahme viel zu kunstliedmäßig, als dass man sich dahinter noch ein Volkslied vorstellen kann. Wer weiß, was Haydn damals hörte ...
Unüblich war es freilich nicht, dass die Klassiker dem Volk Melodien ablauschten - und umgekehrt. So ist oft nicht zu entscheiden, woher Melodien und Lieder wirklich stammen. Das Nachahmen und Vereinfachen von Kunstmusik der "feinen Leute" durchs Volk ist ebenso belegte Praxis in der Volksmusik vergangener Tage.
Das (wahre) Problem ist, dass speziell Musikkritiker stark dazu tendieren, den Klassiker-Kanon geringzuschätzen. Ständig muß das Rad neu erfunden werden. Allerdings: Ohne das »Great American Songbook«, seine Pendants für Jazz, Gospel, Hillbilly, Blues & Soul, Chanson, Singer-Songwriting, spezifische Landestraditionen, die neuere Pop- und Rockmusik inklusive Hip Hop und RnB, Schlager und auch die nach wie vor lebendige Arbeiterliedtradition (nach dem Motto: kein Konzert von Manu Chao oder den Modena City Ramblers ohne ein herzhaftes »Bella Ciao«) wäre Popmusik eine ziemlich öde Veranstaltung.
Darüber hinaus: Gerade beim Covern zeigen sich die Eigenarten und Präferenzen eines Künstlers und einer Künstlerin. Fazit: Covern ist oft die wahre Neuerfindung. Sie ist (manchmal) Ironie, Fremdgang mit Genres, handwerklicher Brückenschlag und eine immerwährende Befruchtung. Weltbekanntes Beispiel: der alte russische Volksschlager »Dorogoi Dlinnoyu« und sein West-Crossover von Mary Hopkins?
Fazit: Die Leute lassen sich nicht vorschreiben, was sie hören mögen. Und das ist auch gut so.
Pop- bzw. Popularmusik war schon immer eine, wenn man so will, Recyclingkultur. Unabhängig davon, wie bewusst oder unbewusst das im Einzelfall geschieht. Absurd wird es dort, wo wegen kleinster musikalischer Schnipsel Prozesse geführt werden. Dass das allein mit Business zu tun hat, wissen wir.
»(…) Dass das allein mit Business zu tun hat, wissen wir.«
Ja.
»Und kürzlich musste sich der EuGH mit einem Streit zwischen Kraftwerk und Moses P. befassen – wegen zwei Sekunden Beat.« (Bildunterschrift)
Nichtsdestotrotz finde ich es immer wieder ergötzlich, wie unterschiedlich sich derartige Nickeligkeiten auslegen lassen. Rein sympathietechnisch tendiere ich klar zur Rödelheimer Hartreim-Fraktion: Wegen mir kann Pelham diese Yuppies als Beilage zum Frühstückskaffee runterspülen. Auf einer anderen Ebene kann man sagen: Beide haben sie eben gebraucht – die mediale Aufmerksamkeit: entweder wegen schwindender Abverkäufe oder aber – ebenfalls nicht auszuschließen – der künstlerischen Sinnkrise. Besitzstandswahrung ist ein weiterer Punkt: So großartig sind Kraftwerk nicht, als dass sie die Kohle aus den vielen Coverversionen ihres Backkatalogs nicht gebrauchen könnten.
Man kann es auch andersherum sehen: Endlich hat Kraftwerk diesen Rap-Emporkömmlingen gezeigt, was ordentlicher deutscher Urheberschutz ist. Man kann es sehen: Was soll das – wegen zwei, drei kleinen Soundpassagen; du liebe Güte! Man kann den Tod des Musikbusiness ausrufen – alles wird nur noch gesamplet; wohin soll das führen? Man kann es als kunstvollen Crossover betrachten: der Erfinder des deutschen Hip Hops erweist dem Krautrock der Siebziger seine Referenz – nur der Krautrock zickt rum.
Ich merke, »pro Kraftwerk« fallen mir wenig Argumente ein. Liegt vielleicht daran, dass die besten Versionen des wohl besten Kraftwerk-Songs in meinen Augen Coverversionen sind: beispielsweise die von den Toten Hosen oder auch – Krautrock goes Tekkno – die von Wunderkind.
"Man kann es auch andersherum sehen: Endlich hat Kraftwerk diesen Rap-Emporkömmlingen gezeigt, was ordentlicher deutscher Urheberschutz ist. Man kann es sehen: Was soll das – wegen zwei, drei kleinen Soundpassagen; du liebe Güte! Man kann den Tod des Musikbusiness ausrufen [...]"
Genau! Einen Song oder substanzielle Teile eines Songs für die eigene Musik herzunehmen, wäre ein Urheberrechtsvergehen. Aber ein Stückchen Beat? Wollte man das konsequent exekutieren, hätten Gerichte nichts anderes mehr zu tun. Kraftwerk haben sich mit dieser Klage selbst unmöglich gemacht. Und zwar gerade als (ehemalige) Künstler elektronischer Musik; meinetwegen sogar als Erfinder elektronischer Popmusik. Also einer Musik, die ja geradezu lebt von automatisierter Reproduktion, Sampeln, Copy & Paste. Irgendwie ein Zauberlehrling-Effekt - haben sie doch selbst in die Welt gesetzt, was ihre "Nachfahren" dann konsequent exekutiert haben.
»(…) haben sie doch selbst in die Welt gesetzt, was ihre ›Nachfahren‹ dann konsequent exekutiert haben.«
Sagen Sie das mal Kraftwerk :-).