Geländegewinn durch "Soft Power"

DAS 21. JAHRHUNDERT Wie Putin im Interessendreieck USA-Russland-Deutschland jonglieren sollte

Die außenpolitische Philosophie Russlands für die Zeit nach dem bipolaren Zeitalter und auf der Höhe des 21. Jahrhunderts ist noch nicht gefunden, an Plattformen und Positionen jedoch herrscht kein Mangel. Für eine höchst aufschlussreiche Wortmeldung dazu sorgte Ende September die Moskauer Tagezeitung Njesawisimaja Gasjeta. Als Autor wurde mit Leonid Sluzkij der stellvertretende Vorsitzende des Komitees für Auswärtige Angelegenheiten in der Staatsduma angegeben, der die Figur eines strategischen Dreiecks mit den Eckpunkten USA, Deutschland und Russland entwickelt. Letzterem wird dabei für die kommenden Jahrzehnte eine Mission zugewiesen, die manche transatlantischen Ambitionen Wladimir Putins in jüngster Zeit nachvollziehbarer erscheinen lässt. Wir dokumentieren die wesentlichen Passagen des Textes.

Seit dem Mittelalter und der Epoche der großen geographischen Entdeckungen, als sich der Gang der Weltgeschichte erheblich beschleunigte, glich hinsichtlich der globalen Kräftekonstellation kein Jahrhundert dem anderen. Nicht nur der Verlauf staatlicher Grenzen änderte sich. Militärische und handelspolitische Auseinandersetzungen um regionale und globale Führerschaft führten zur Neuordnung von Einflusssphären, zum Aufstieg der einen und dem Niedergang anderer Mächte. Darüber hinaus veränderte sich der Typ der Weltordnung an sich. Zweifellos wird das 21. Jahrhundert diesbezüglich keine Ausnahme sein, da sich als Haupttendenz in der Welt das Abrücken von der ideologischen Konfrontation, unter der praktisch das gesamte 20. Jahrhundert verlaufen war, herausgeschält hat.

Nach dem Zerfall der UdSSR begann eine neue Etappe der Aufteilung der Welt. Lang zurückliegende historische Kränkungen machten sich bemerkbar, revanchistische Stimmungen kehrten wieder. Und mit jedem Jahr wurde offensichtlicher, dass Jahrhunderte alte Interessen der Großmächte unter dem Deckmantel der ideologischen Gefechte des 20. Jahrhunderts lediglich in einen Dämmerzustand geraten waren und nun wieder erwachten.

Nicht die Debatten um die NATO-Erweiterung werden die Weltordnung des 21. Jahrhunderts bestimmen. Der entscheidende, bislang unterschwellig wirkende, aber dennoch unumkehrbare Faktor ist der sich abzeichnende Streit um die Weltherrschaft zwischen den USA und Deutschland ...

Nach der deutschen Vereinigung war es nur logisch, dass am Horizont der Weltgeschichte früher oder später das Gespenst einer Rivalität zwischen den USA und Deutschland auftaucht. Wie der berühmte Flaschengeist erschien dieses Gespenst bereits auf den Trümmern der Berliner Mauer. Das große Deutschland, das mit der Zeit die ehemalige DDR wirtschaftlich verdaut haben wird, muss objektiv zu einer der stärksten Mächte werden und dem Weltführer aus Übersee den Fehdehandschuh hinwerfen.

Der Niedergang des Kommunismus und der Zerfall der UdSSR erlauben eine weitere, nicht minder gravierende Schlussfolgerung: Der amerikanische "Nuklearschirm" über Europa wird allmählich an Bedeutung verlieren, in der NATO - in der die USA den Ton angeben - dürften sich daraufhin kontinentale Stimmungen unausweichlich verstärken. Im Laufe der Jahre (oder Jahrzehnte) wird diese militärische Organisation der Ökonomie den Vorrang geben - nicht unter russischem Druck, sondern im Interesse der kontinentalen Länder. Es liegt auf der Hand, dass sich in diesem Fall der Einfluss der USA in der NATO ebenfalls verringern muss. Diese beiden Schluss folgerungen bilden sozusagen die Grundlage für das Verständnis jener globalen Prozesse, deren Resultat in naher Zukunft die Weltordnung des 21. Jahrhunderts sein dürfte.

Die militärische Konfrontation wird dabei durch die Konkurrenz in den so genannten Sphären wirtschaftlicher Wechselwirkung ersetzt. Mit anderen Worten: nukleare, ja insgesamt militärische Überlegenheit, jener Bereich also, in dem Europa den USA niemals das Wasser reichen kann, wird in absehbarer Zukunft aufhören, der entscheidende Faktor globalen Wettstreits zu sein und der "Soft Power" - das heißt, der wirtschaftlichen Macht - den Vorrang lassen. Besonders in Sachen wirtschaftliche Stärke werden sich Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen objektiv zu Rivalen der USA entwickeln.

Ohne es an die große Glocke zu hängen, hat Deutschland bereits damit begonnen, seine langfristigen Pläne in die Tat umzusetzen. Die Geschichte hat dafür gute Voraussetzungen geschaffen. Wie etwa die Tatsache, dass nach der Liquidierung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) Osteuropa, das seit jeher als Sphäre besonderer deutscher Interessen galt, infolge abgeschwächter Beziehungen zu Moskau quasi herrenlos wurde. Die USA haben daraus sofort politisches Kapital geschlagen, indem sie es zu ihrer Mission erhoben, die osteuropäischen Länder in die NATO zu ziehen. Oberflächlich betrachtet, gestaltet sich diese Osterweiterung recht erfolgreich und kann als neuerlicher Sieg amerikanischer Diplomatie gelten. Möglicherweise ein trügerischer Triumph: Denn das politische Gezeter um die NATO-Ausdehnung lenkt von der Tatsache ab, dass Deutschland - ohne entsprechende programmatische Erklärungen abgegeben zu haben - unbeirrt und zügig wirtschaftlich in Osteuropas expandiert. Wie stark Deutschland in Tschechien Position bezogen hat, ist bekannt: Selbst der Stolz der tschechischen Industrie, die SŠkoda-Werke, befindet sich längst in deutscher Hand. Ein weiteres Ziel verstärkter deutscher Investitionen ist Ungarn (s. a. Seite 7, d. Red.). In West-Polen kommt es zum fortgesetzten Aufkauf von Grund und Boden durch Deutsche ...

Die derzeit dominierende westliche Macht in der Ukraine sind die USA. Allerdings ist diese Dominanz rein militärpolitischer Natur, die wirtschaftliche Erschließung steht noch bevor. Auch in den strategischen Überlegungen Deutschlands spielte die Ukraine einmal eine große Rolle. Warum also sollte Berlin nicht versuchen, verlorenen Boden zurückzugewinnen, wie es dies in der Slowakei, in Kroatien, in Osteuropa überhaupt tut? Schon hier wird erkennbar, wie sich die geostrategischen Interessen der USA und Deutschlands überschneiden - in geradezu dramatischer Weise geschieht das jedoch in Russland.

Noch bestimmen die Beziehungen zu den USA die gesamte Westpolitik Moskaus. Im Fahrwasser der amerikanischen Russland-Politik hat Deutschland jedoch längst damit begonnen, sein eigenes Spiel zu suchen. Ganz offenbar wird zur Zeit das Terrain für ein umfassendes wirtschaftliches Engagement in Russland sondiert - und expandiert, sobald die ehemalige DDR vollständig im deutschen Volkswirtschaftskörper integriert worden ist.

Allem Anschein nach haben die Amerikaner noch nicht recht begriffen, wie weit die Deutschen bei der Schaffung einer für sie vorteilhaften Weltordnung bereits sind. Aus alter Gewohnheit heraus spielen sie erneut auf der Klaviatur militärischer Macht und riskieren, sich im Gestrüpp diverser ABM-Phantasien zu verheddern. Sie werden damit im bevorstehenden Wettbewerb um die Weltherrschaft, bei dem "Soft Power" entscheidendes Erfolgskriterium sein wird, das Nachsehen haben.

Moskau muss rechtzeitig begreifen, was Washington nicht begreifen will: dass es im ureigensten geopolitischen Interesse der USA liegt, wenn Russland eine selbstständige politische und wirtschaftliche Rolle spielt und damit Deutschlands schnell wachsende Macht relativiert. Ein geschwächtes Russland als Sphäre wirtschaftlicher Einflussnahme Deutschlands würde sich verheerend auf die globale Führerschaft Amerikas auswirken. Das Gleiche gilt für Deutschlands globale Interessen, sollte Russland unter allzu starken amerikanischen Einfluss geraten.

Mit anderen Worten: Russland könnte im 21. Jahrhundert eine äußerst verantwortungsvolle und eigenständige Rolle als Stabilisator globaler wirtschaftspolitischer Prozesse spielen. Seine balancierte Einbeziehung in das System weltwirtschaftlichen Miteinanders wäre von größter internationaler Bedeutung.

Das diplomatische Jonglieren mit den objektiven amerikanisch-deutschen Widersprüchen kann und muss daher unsere außenpolitische Trumpfkarte werden. Sie wäre weder anti-amerikanisch noch anti-deutsch, würde sie doch letztlich zur Schaffung einer geopolitischen Balance als dem immer noch stabilsten Weltordnungstyp beitragen.

Übersetzung: Katharina Stephan

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