A
Abzocke Mit meinen 25 Jahren gehöre ich zur Generation Bargeldlos, und das klappt prima. Nur die Spätverkaufsstellen sind ein Problem. So passierte mir schon häufiger, dass ich ohne Geld in der Tasche, dafür mit dem Wunsch nach einem Bier (➝ Zeche) vor der Tür des Späti stand. Zum Glück haben mittlerweile viele Spätis einen ATM,eine automated teller machine, vor ihrem Laden. Gerade in Berlin-Neukölln sind allerdings viele manipuliert. Beim Abheben werden die Daten der Karte kopiert, Betrüger haben freien Zugang zum Konto des Inhabers. Man nennt das skimming. Was darauf folgt, ist ein nervendes Prozedere: Karte sperren, neue bestellen, eine Anzeige bei der Polizei sowie tagelanger E-Mail-Verkehr mit dem Bankinstitut, um das gestohlene Geld zurückzufordern. So stellt sich mir jedes Mal die Frage: Was ist größer, der Wunsch nach einem Bier oder die Angst, abgezockt zu werden? Carolina Schwarz
B
Bankomat Es beginnt alles mit einem Mann vor verschlossener Tür. John Shepherd-Barron arbeitet für eine Firma, die Banknoten produziert. Genau diese bekommt der Schotte eines Tages im Jahr 1965 nicht mehr, weil die Bank zuhat und er seinen Scheck nicht einlösen kann. Warum, fragt er sich, gibt es eigentlich dafür keine Maschine, die rund um die Uhr funktioniert? Shepherd-Barron legt den Grundstein für „die einzige nützliche Innovation in der Bankenbranche in den vergangenen Jahrzehnten“, wie der frühere US-amerikanische Notenbankpräsident Paul Volcker 2009 erklärte.
Barclays Bank stellte 1967 den ersten Automaten auf, der dann in Serie ging. Anfangs konnte man nur leicht radioaktive (➝Code) Schecks einlösen. Später etablierten sich Magnetstreifen und PIN-Code. Heute gibt es weltweit rund 3,2 Millionen Geldautomaten. Diese Erfolgsgeschichte hielt der Erfinder Shepherd-Barron selbst übrigens für unwahrscheinlich. Noch 2007 prophezeite er das Verschwinden des Bankomaten. Benjamin Knödler
C
Cash Der Geldautomat ist nicht nur ein moderner Prometheus (➝ Zeche), er ist mehr denn je das Symbol einer dem Untergang geweihten Welt der realen Dinge; eine veraltete Maschine des Widerstands gegen die totale Virtualisierung. Schon bald, wenn der Menschheitstraum der unendlichen Geldvermehrung zu Negativzinsen wahr geworden sein wird, wenn das Bargeld verschwunden ist und uns selbstfahrende Teslas zum Tagespensum ins Fitnessstudio eskortieren, wird niemand mehr wissen, wie ungemütlich es sich in den versifften Foyers der Geldinstitute einmal angefühlt hat. Die Ironie des Bargelds findet im Geldautomaten ihren Glanzpunkt: Wo anders als in der verheißungsvollen Nähe und Wärme der Cash-Machines trifft der besitzende Bürger so verlässlich auf das Elend des Wohnungslosen (➝ Not).
Es ist die leise Rache der Verlierer, sich uns ungewaschen in den Weg zu legen, dass wir mit schlechtem Gewissen erst über sie staksen müssen, wenn wir ans Geld wollen. Aber so soll es in der digitalen Welt bitte nicht mehr sein: Vergangenes Jahr forderte der Tech-Unternehmer Justin Keller die Stadt San Francisco auf, ihn vom Anblick des „obdachlosen Gesindels“ zu befreien. Ja, bald schon, wenn es das alles nicht mehr gibt, das Bargeld, die Geldautomaten und die Menschen, dann gibt es auch keinen Grund mehr für ein schlechtes Gewissen. Timon Karl Kalyeta
Code Apropos PIN. Eine Sammlung von 104 Blättern, beschriftet mit rätselhaften Zeichen, unbekannten Pflanzen, anatomischen Zeichnungen, Fabelwesen, und immer wieder nackte Nymphen: das Voynich-Manuskript. Seit der Antiquar Wilfried Voynich das Pergament 1912 in einer Villa bei Rom entdeckte, versuchen Historiker, Kryptologen, Experten für militärische Codes, Enigma-Entschlüssler und aktuell ein riesiger Fanclub von „Voynicheros“, den Voynich-Code zu knacken. Vergeblich. Handelt es sich um ein im 15. Jahrhundert entstandenes, brisantes Kassiber aus einer Mönchszelle des Roger Bacon, war der von Kunst, Schwarzpulver und alchemistischer Goldsuche besessene Habsburger Rudolf II. sein Besitzer? Ist es bloß ein Schabernack, eine Fälschung? Manches spricht dafür. Gewiss ist, dass der taxierte Wert des in der Bibliothek der Yale-Universität verwahrten Werks bei 500.000 Dollar (➝ Kavaliersdelikt) liegt und eine ideale Vorlage für Hollywood-Thriller liefert. Helena Neumann
K
Kavaliersdelikt Hagen, Bischofswerda, Bruchköbel. Dort wurden vergangenen Dezember Geldautomaten in die Luft gesprengt. Was bei manchem Klientel als Kavaliersdelikt durchgehen mag, ist kriminelle Mode geworden. Dabei entsteht oft erheblicher Sachschaden. In der Hagener Bankfiliale wurde die Glasfassade herausgerissen, Bewohner mussten evakuiert werden. Auch für die Täter selbst ist die Gasexplosion per Schlauch nicht ungefährlich. Organisierte Banden hindert das nicht. Ihr Schwerpunktgebiet ist übrigens Nordrhein-Westfalen. Tobias Prüwer
N
Not 2015 sorgte ein möglicher Grexit für Bilder, die zum Symbolbild jeder Finanzkrise taugen. Sie zeigen Warteschlangen vor den Automaten, in denen sich die Menschen einreihen, voller Angst, dass das Ersparte über Nacht wertlos oder unerreichbar werden könnte (➝ Osten).
Ähnliches war schon 2001 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise in Argentinien zu sehen. Und auch als der indische Premierminister Narendra Modi vor Kurzem die Abschaffung größerer Rupienscheine ankündigte, waren die Geldautomaten schnell leer geräumt und die Schlangen lang. Diese Bilder gehen nahe, denn sie dokumentieren eine ganz eigene Mischung aus Panik, Resignation und Wut gegen ein System, das die Menschen im Stich gelassen hat. Benjamin Knödler
O
Ostomat Die ersten Automaten wurden in der DDR Mitte der 80er Jahre eingeführt. Ein Betrieb, der eigentlich Wägetechnik herstellte, übernahm die Entwicklung, die Elektronik kam vom VEB Robotron. In der ganzen Republik gab es 274 (➝ Wüste), davon 80 allein in Berlin.
Ich besorgte mir sofort eine Geldkarte, so entging man jener erniedrigenden Prozedur, die durch die Schalterbeamten von Bank und Post vollzogen wurde. Sie sahen einen streng an und prüften dann den Scheck anhand einer Sperrliste. Auf die konnte man schnell geraten, wenn man sein Konto überzogen hatte. Es gab keinen Dispo, sondern eine ernste Mahnung zu korrekter Kontoführung. Man fühlte sich dadurch immer verdächtig. Wie oft war man nun schon gemahnt worden? Es dauerte eine Weile, bis eine Automatenabhebung auf dem Konto verbucht wurde – eine Galgenfrist, bis das Gehalt überwiesen und so das Defizit vorher ausgeglichen war. Heute gibt es viele Bankautomaten, aber bald vielleicht kein Bargeld mehr. Magdalene Geisler
P
Punk Als die Sparkassen die Eingänge zu ihrem Automatenbereich mit automatischen Türöffnern versahen, schrieben viele Punkforscher, dass dies das Ende eines Geschäftsmodells sei. Dass also keine Punks einem mehr für eine Spende die Tür zur Kasse aufmachen. Die Punkforschung hat sich wie so oft geirrt, die Punks halten die Tür einfach weiter auf (➝ Kavaliersdelikt). In der Sparkassenfiliale an der Berliner Wichertstraße ist die Situation insofern komplexer, als es zwei Türen gibt. Hier wird oft die eine Tür aufgehalten, die andere nicht. Dass beide geöffnet werden, habe ich noch nicht erlebt. Aber man kann ein differenziertes Geschäftsmodell beobachten, das im Verkauf der Obdachlosenzeitung plus Aufhalten der einen Tür besteht. Ich habe noch nie eine Zeitung gekauft, aber ich versuche eigentlich immer, beim Rausgehen Geld fürs Aufhalten zu geben. Bei schlechter Laune gelingt es mir nicht immer, und ich habe rasch ein schlechtes Gewissen. Ich müsste aber lügen, würde ich hier behaupten, ich sei schon mal zurückgelaufen. Michael Angele
S
Schlitz Der Ausgabeschlitz. Ist das der korrekte Begriff für die Klappe, die dem Kunden sein Geld ausspuckt? Neulich, montagmorgens in der Bank, bittet eine betagte Kundin die Filialangestellte um Hilfe beim Geldabheben. Der Automat verweigert die Auszahlung. Der Geldstapel passt nicht durch den Ausgabeschlitz. Das sind freilich Luxusprobleme! Satte 10.000 Euro ➝Cash benötigt die alte Dame. Ich überlege, ob sie das Bargeld für einen ominösen Enkel benötigt, der in ganz fürchterlichen „Schwierigkeiten“ steckt. Oder ob sie vielleicht auf einen Besuch in ihre frühere, heute heruntergekommene Heimatstadt zurückkehren möchte, um dort alle lokalen Geschäfte aufzukaufen. Dafür aber würden 10.000 Euro nicht reichen. Nicht einmal im Osten.
Während ich über den Grund für die Bargeldentnahme sinniere, hilft die freundliche Bankangestellte bereits beim Problem. Man müsse sich nur an den Automaten begeben, der 500er-Scheine ausspuckt; 20 davon könne der Ausgabeschlitz (heißt er denn nun so?) auswerfen. Aber wohin wandert das Geld? Ein bisschen viel für einen Sparstrumpf ist es, man könnte das Geld aber unter der Matratze verstecken. Dort wartet es dann auf die Enkel, die eines Tages das Häuschen der Großmutter ausräumen. Geldübergabe ohne staatlichen Einblick – auch ein guter Enkeltrick. Marlen Hobrack
W
Wüste „Servicewüste Deutschland“ ist ein berühmtes Etikett. Nicht selten beruht es auf Übertreibungen oder falschem Verständnis von Service als Unterwürfigkeit. Im ländlichen Raum allerdings trifft die Bezeichnung hinsichtlich der Bargeldbeschaffung tatsächlich zu. Wer etwa Urlaub auf der Insel Hiddensee oder im Kerngebiet des Spreewalds macht, sollte einen Stapel Euroscheine mitbringen oder Kunde der Sparkasse (➝ Abzocke) sein. Denn nur diese hält dort – wie vielerorts – das Bankengeschäft aufrecht. Andere Institute bewerten das Privatkundensegment schlicht als unrentabel.
Wer des Geldabhebens wegen von Kloster nach Vitte oder von Leipe nach Lübbenau radeln muss, mag das als Tourist noch romantisch finden. Im Alltag ist es lästig. In letzter Zeit nehmen auch die Schließungen von Sparkassenzweigstellen zu. Zum Teil werden sie durch mobile Filialen ersetzt, die übers Land tingeln. Das erfordert natürlich erhöhten Planungsaufwand auf der Kundenseite. Allerdings, was will man im ländlichen Raum überhaupt mit Bargeld? Auch der lokale Einzelhandel ist dort schon lange auf der Flucht. Tobias Prüwer
Z
Zeche Ob es mit einem gerade auf oder ab geht im Leben, zeigt sich am Kontostand. Jeder kann ihn schnell und einfach ablesen, das macht den Gang zum Therapeuten meist überflüssig. Ein vorläufiges Ende ist erreicht, wenn trotz größter Hoffnung kein Geld mehr aus dem Automaten kommt. Auch der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre erlebte einen solchen Wendepunkt in seinem Leben, als plötzlich keine Scheine mehr aus dem „Loch in der Wand“ kommen wollten, wie er einmal schrieb – der Rest der Geschichte ist bekannt. Das Loch in der Wand ist der moderne Prometheus (➝ Punk), der vorauswarnende Gott, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Ist ja noch mal gut gegangen. Timon Karl Kalyeta
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