Gelebter Widerstand

Erinnerung Als Kind prägte mich der Komponist Mikis Theodorakis und ich lernte schnell, warum ihn die Faschisten damals so fürchteten
Ausgabe 36/2021
Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich Theodorakis’ Musik mochte, weil sie illegal oder weil sie gut war
Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich Theodorakis’ Musik mochte, weil sie illegal oder weil sie gut war

Foto: Imago/ZUMA/Keystone

Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als ich eine Ahnung davon bekam, welche Bedeutung die Musik von Theodorakis hat. Es war um 1968 herum, meine Eltern warnten mich, in der Schule oder Nachbarschaft keinem zu erzählen, dass sie seine Platten besaßen – geschweige denn hörten. Meine Mutter sagte: „Du kannst verhaftet werden, wenn du nur eine seiner Melodien singst.“ Ich verstand sofort, wie mächtig diese Musik sein musste, wenn sie unsere verhassten faschistischen Diktatoren so fürchteten.

Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich Theodorakis’ Musik mochte, weil sie illegal war oder weil sie gut war. Das entschied sich 1970, als meine Klavierlehrerin Jenny Protopapas für mich die Noten seines Liedes Mana mou kai Panagia („Mutter und Madonna“) aufschrieb. Während ich lernte, es zu spielen, fühlte sich jede Note wie ein Tornado an, der mich traf. Bis heute vergesse ich, wenn ich dieses Lied spiele, wer ich bin, wo ich bin, einfach alles – ich werde eins mit dem Universum, das diese wenigen, brillant arrangierten Noten erschaffen.

Als die Diktatur 1974 zusammenbrach, konnte ich eine lange Liste an Theodorakis-Liedern spielen, noch bevor die Plattenläden sie wieder verkaufen durften. 1975 trat er in einem Fußballstadion bei Piräus auf, und ich besuchte zum ersten Mal alleine ein Konzert. Ich wurde Teil einer Menge, die nach Demokratie dürstete, und einer Musik, die dafür gemacht war, alle Himmel zu erschüttern, bis die Tyrannei endgültig scheiterte. Irgendwann, Theodorakis’ Körper pulsierte zu seinen Melodien, ging er von seinen griechischen Songs zu Canto General über (ein Orchesterstück, das auf dem Gedicht von Pablo Neruda basiert). Mit einem Mal fand sich das ganze Stadionin Chile wieder und erbebte mit dem Gefühl, eins zu sein mit jedem Volk der Welt, das unter Tyrannei, Faschismus, Ausbeutung und Diktatur litt. Ich hatte das Stadion als 15-jähriger griechischer Junge betreten, als ich es verließ, fühlte ich mich älter und gleichzeitig lateinamerikanisch, indisch, jüdisch, arabisch …

Ich entdeckte dann für mich die vom Blues inspirierte Musik – besonders als ich 1978 nach Großbritannien zog. Aber Theodorakis verließ mich nie. Hier und da tauchte eine seiner Melodien in meinem Kopf auf und unterbrach, was auch immer ich gerade machte. Damit bin ich nicht alleine. Leute aus allen Schichten, verschiedenen Ländern und Kulturen haben mir gestanden, dass Theodorakis sie berührt. Erst kürzlich verriet mir mein Freund Brian Eno, Theodorakis’ Musik habe ihm Mut gemacht.

Warum also war Mikis so wichtig für Menschen wie mich? Seine Musik schlug Saiten in unserer Seele an, die andere Melodien nicht erreichten. Er trug zur Neuerfindung der griechischen Populärmusik bei, indem er sie nahtlos mit der besten modernen griechischen Lyrik verband. So legte er anspruchsvolle Gedichte in die Münder und Herzen von Bauarbeitern, Putzkräften, Taxifahrern und so weiter. Er berührte mit seiner überkonfessionellen Orchestermusik die Menschen weit über Griechenlands Grenzen hinaus – ich denke an die Mauthausen-Kantate, das bereits erwähnte Canto General, die Soundtracks zu Costa-Gavras’ Filmen Z und Der unsichtbare Aufstand oder Sidney Lumets Serpico.

Vor allem aber machte seine Musik es unmöglich, sie zu hören und in der Seele rechts, autoritär oder xenophob zu sein.

Leb wohl, Miki.

Yanis Varoufakis ist Ökonom und Publizist. Er war griechischer Finanzminister und sitzt für die linke Partei MeRA25 im Parlament

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