Indigo sitzt erschöpft im Laub, die dunkle Mütze schräg auf dem Lockenkopf. Sie kann nicht fassen, was da gerade passiert. Mit einem lauten Krachen stürzt ein Baum ins Unterholz, der Bagger rollt näher heran. Kurz darauf zerren Polizisten in weißen Schutzanzügen einen schreienden Mann aus seinem Baumhaus. Es ist Ausnahmezustand im Hambacher Forst, der zur gefährlichen “Dangerzone” erklärt wurde. Seit 36 Stunden ist ein Großaufgebot der Polizei im Wald, dem Ort, den Indigo zu ihrem Zuhause gemacht hat.
Am liebsten würde sich die Waldbesetzerin mit ihren zerschlissenen Lederstiefeln zwischen die Eichen und die Einsatzkräfte stellen. Aber das kann sie nicht. Wenn sie jetzt festgenommen wird, wer soll dann ihr eigenes Baumh
enes Baumhaus verteidigen, wenn es soweit ist? Bisher hat die Polizei erst ein paar der rund fünfzig Behausungen geräumt, die die nordhrein-westfälische Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) diese Woche als „Schwarzbauten“ bezeichnet hatte. Wegen Mängeln im Brandschutz ordnete sie die sofortige Räumung an. „Und das fällt denen jetzt ein, wo es zum ersten Mal nach diesem langen Sommer regnet?“, fragt Indigo. Die Aktion sei eine „reine Machtdemonstration“.Placeholder image-1Kritik am Vorgehen kam nicht nur von den Besetzern, sondern auch von Grünen und SPD: Räumpanzer, Wasserwerfer, Pferdestaffel, Hundertschaften aus dem ganzen Bundesgebiet – insgesamt 3.500 Polizisten waren am Donnerstag zur Stelle, um rund 150 Baumbesetzer aus dem Wald zu holen und die angemeldete Demonstration zu sichern. „Wir wussten ja nicht, auf was wir uns einstellen müssen”, kommentierte ein Sprecher der Einsatzleitung aus Aachen. Klar ist: Der Einsatz wird Wochen, wenn nicht Monate dauern.„Es müssten viel mehr Leute hier im Wald sein“Die Umweltaktivisten haben sich lange vorbereitet auf den Tag X, an dem der erste Baum fallen würde. Indigos Essensvorräte reichen für mehrere Wochen: Hunderte Waldbesucher haben Fertigsuppen, Kekse oder selbstgemachte Marmelade mit in die Siedlungen gebracht. Mit schwarzem Edding hat sie sich die Notrufnummer eines Anwalts auf den Unterarm geschrieben, falls sie wegen Hausfriedensbruch festgenommen wird. Ganz sicher fühlt sie sich trotzdem nicht, so abgeschnitten von der Außenwelt. „Es müssten viel mehr Leute hier im Wald sein“, sagt Indigo. Ob am Sonntag wieder Besucher zum Waldspaziergang vorbeischauen werden, ist ungewiss.Niemand hat jetzt mehr Zugang zum Hambacher Forst, abgesehen von Politikern und Presse. Polizisten sichern Tag und Nacht die Gefahrenzone: 200 Hektar Wald, die zum Symbol für die Debatte um den Klimawandel geworden sind. Und zur Gefahr für das ohnehin geschädigte Image der Braunkohleindustrie. Einst war der Wald zwanzig Mal so groß wie heute. Immer weiter fraß sich der Tagebau in den Lebensraum von bedrohten Tieren wie Haselmaus und Bechstein-Fledermaus, bis nur noch das kleine Stück übrig war, in dem jetzt auch Indigo wohnt.Naturschutz sei nicht ihre erste Motivation, betont die Aktivistin. Längst geht es bei den Protesten nicht mehr nur um ein Waldstück. „Es geht hier um Klimagerechtigkeit. Wir brauchen ein System, das diesen Planeten auch noch für unsere Kinder lebenswert erhält. Also muss die Braunkohle hier unter uns im Boden bleiben.“ Indigo macht sich keine Gedanken über ihren Lebenslauf. Sie macht sich Gedanken über die Welt, in der sie leben will. Die Bäume gehören dazu.Der Energiekonzern RWE hat für die Rodung des Hambacher Forst sämtliche Genehmigungen vorliegen. Bis 2040 sollen im angrenzenden Tagebau insgesamt 2,4 Milliarden Tonnen Braunkohle gefördert werden. Nach Darstellung des Konzerns stehen die Bagger dort kurz vor der Abbruchkante. Schon im letzten Jahr wurden die Rodungen im Hambacher Forst aufgrund einer Klage durch den Naturschutzbund BUND ausgesetzt. Jetzt müsse gerodet werden, sonst drohe der Betrieb zum Erliegen zu kommen, so RWE. Das gefährde Arbeitsplätze und die Energieversorgung im Land Nordrhein-Westfalen, das 15 Prozent des Stroms aus dem Rheinischen Revier bezieht.Gleichzeitig sind die Kohlekraftwerke hier große Klimasünder, nirgends werden in Europa mehr Treibhausgase in die Luft geblasen. Deshalb haben Umweltschutzorganisationen dazu aufgerufen, das Ergebnis der sogenannten Kohlekomission abzuwarten, die bis zum Ende des Jahres eine Strategie zum Kohleausstieg und Vorschläge für den Strukturwandel in den betroffenen Regionen erarbeiten soll. Viel Hoffnung auf Aufschub gibt es nicht.Der Protest ist bunt und wird noch bunterWährend Indigo am Freitagabend zurück zu ihrem Baumhaus läuft, lehnt das Verwaltungsgericht Aachen den Eilantrag des BUND ab, zum Schutz der nistenden Vögel die Räumung bis Oktober zu stoppen. In der Begründung heißt es, derzeit „würden keine großflächigen Rodungen durchgeführt, sondern allenfalls einzelne Bäume gefällt“. Einige Bäume hat sie heute fallen sehen, 17 ihrer Mitbewohner wurden von der Polizei abgeführt.„Wir haben uns unsere Betroffenheit selbst ausgesucht“, sagt Indigo mit ruhiger Stimme. „Ich bin ja nicht im Baumhaus geboren.“ Schlimmer sei das für die Dorfbewohner, die wegen des Tagebaus umgesiedelt werden müssen. Bis zum Ausstieg aus der Kohleenergie wird das 5.200 Bewohner betreffen. Nach Jahren des Kampfes gegen den Energieriesen gibt die Aufmerksamkeit für das Thema ihnen allen neue Kraft. Vergangenes Wochenende kamen über 1000 Leute zum politischen Waldspaziergang, so viele wie noch nie.Da war Professor Koepke, Mathematiker aus Bonn, der nicht weiter hinnehmen will, dass sich „ein paar wenige auf Kosten Hunderttausender bereichern“, da war der Berliner Hipster Moses, der sich nach den Waldbränden diesen Sommer „nichts Dümmeres“ vorstellen kann, als einen uralten Wald zu roden, da war die Aachener Studentin Alina, die mit ihrer zweijährigen Tochter ein „Bambi bleibt“ Banner trug.Der Protest ist bunt und wird noch bunter, Chöre aus der Region haben sich für den kommenden Sonntag unter dem Motto „Singen statt Sägen“ angekündigt und ein Bündnis hat zum "AufBäumen" eingeladen: Kollektives Bäumepflanzen am Waldrand. Wahrscheinlich ist Indigo diesen Sonntag durch eine Polizeikette von den Spaziergängern getrennt. Doch diese Aktionen geben ihr die Hoffnung: “Selbst wenn das letzte Baumhaus geräumt ist, ist dieser Protest noch lange nicht am Ende.”