Beirut Wo Amnesie und Nostalgie nichts gelten: Die Galerie The Hangar ist ein politischer und künstlerischer Zwischenraum im von der Hisbollah beherrschten Viertel Dahia
„Die Oase der südlichen Vororte“, würden die einen sagen. „Die grüne Insel“ oder der „Hafen des Friedens inmitten des Chaos“, die anderen. „Was denn? Da unten? In der Höhle des Löwen?“ Dort ein Museum? Eine Galerie? Ein soziokulturelles Zentrum? Ein Kino-Klub? Ein neues Objekt ist im Entstehen, mitten im Beiruter Stadtteil Dahia: der Hangar.
Wie man hinkommt? Nachdem Sie die große Avenue mit den sonnengebleichten Märtyrerplakaten passiert haben, biegen Sie zwischen der Al-Mahdi-Moschee und einer Kreuzung, die in den letzten neun Monaten nach allem aussah, nur nicht nach einer Kreuzung, links ab – nein, nicht links, besser rechts, denn auf der linken Seite finden Straßenarbeiten statt – wie la
11; wie lange, weiß niemand. Ist Ihnen das zu kompliziert? Dann holen wir Sie ab. Aber Vorsicht, der Verkehr ist schwierig. Außerdem schlängeln sich die „Mofas von Dahia“ durch die Straßen, mit vier, drei, mindestens aber zwei Personen an Bord, wovon eine ein Säugling ist.Umam D R („Documentation and Research“), gegründet 2004, ist eine nicht-kommerzielle Firma. Gegründet wurde sie in der Debatte um den Bürgerkrieg und die angemessene Erinnerung an diesen, weil es keine offizielle Aufarbeitung des Krieges gibt. Ziel von Umam D R ist es, ein Dokumentations- und Forschungszentrum zur jüngeren Geschichte des Libanons zu gründen. Sein Sitz ist in dem schiitischen, von der Hisbollah beherrschten Stadtviertel Dahia. Die südlichen Vorstädte Beiruts sind Nicht-Orte, jenseits der Demarkationslinie, die bis heute im kollektiven Unbewussten existiert.Ein Bus von 1975Umam D R ist ein vielschichtiges Projekt. Die Galerie The Hangar fungiert als künstlerische und kulturelle Plattform. Sie ist ein täglich neu zu leistendes Engagement, errichtet gegen den zur Staatsreligion erhobenen Pakt des Vergessens. 15 Jahre nach Ende der Kämpfe sind die Libanesen noch immer nicht in der Lage, die vielen tödlichen Konflikte in ihrer Geschichte auf abstrakte Art zu lesen. Das ist aber eine notwendige Etappe in der Erinnerungsarbeit. Das libanesische Selbstverständnis ist vom dauernden Kriegszustand geprägt, und man darf fragen, wie die Libanesen auf einen zivilen Frieden und eine ernsthafte Versöhnung hoffen können.Die Nachkriegszeit ist charakterisiert durch ein kollektives Vergessen. Politiker zogen Nutzen daraus, traumatisierte Bürger sahen darin die Grundlage, um in die Zukunft zu schauen. Doch in welche Zukunft kann man schauen, wenn die Vergangenheit tot ist? Was könnte das Nachklingen der Gewalt verhindern, wenn nicht die Erinnerung? Allein ein paar Künstler und Intellektuelle haben auf die Gefahren hingewiesen, die einer Gesellschaft drohen, deren Erinnerung manipuliert ist. Allein Kunst und Kultur vermochten die verbindenden Elemente dieser Gesellschaft zu mobilisieren.Mangels einer nationalen Institution, die öffentlich zugängliche Archive und Bibliotheken unterhielte, hat sich Umam D R zur Aufgabe gemacht, alle Dokumente zu sammeln, die zum Verständnis der Vergangenheit beitragen: Zeitungen, Zeitschriften, Audio- und Videoaufnahmen, einzelne Objekte. Und so weiter.In den Archivräumen von Umam D R finden sich monumentale „Dokumente“ wie der Bus von Ain-el-Remmaneh, der für den Ausbruch des Bürgerkriegs am 13. April 1975 steht. Im April 2010 war dieser Bus Teil der Ausstellung A bus and it’s replicas des Künstlers Houssam Boukeili. Es finden sich aber auch scheinbar harmlose Dinge wie Briketts, die den Konterfeis von damaligen Parteichefs nachgeahmt sind.Der Hangar ist ein physischer Raum, ein Archiv der Geschichte der südlichen Vorstadt, eine Spur in die Vergangenheit, die den sozialen und politischen Veränderungen des Viertels widerstanden hat. In den fünfziger Jahren ein Gemüselager, verwandelte Umam D R den Ort in einen öffentlichen Raum – und dies in einem Land, in dem eine solche Vorstellung „extravagant“ oder „progressiv“ erscheint, da das nicht der Logik der Immobilienwirtschaft entspricht. Öffentliche Orte, potentielle Räume der Vermittlung, Stätten des sozialen Lebens, dynamische Räume, die Werten einen Platz bieten, Speicher der urbanen Erinnerungen: Sie alle unterlagen derselben Günstlingslogik wie die öffentliche Kulturpolitik. Darum gibt es beides nicht.Fruchtbare ErdeDer Hangar hat sich mit einem alternativen Ausstellungsangebot als Akteur des künstlerischen und kulturellen Lebens in Beirut behauptet. Er wurde Begegnungsstätte und Debattierplatz, ein Ort für Filmvorführungen, kurz: ein nicht mehr wegzudenkender Treffpunkt, eine „Plattform der Archiv-Experimente“.Das künstlerische Programm des Hangar setzt auf Auftragsarbeiten an zeitgenössische Künstler, die auf Basis der dortigen Archive arbeiten sollen. Die künstlerischen Praktiken fordern den Vergessensprozess heraus, setzen sich mit kollektiven Erinnerungen auseinander. Das ist kein Zufall. Viele libanesische Künstler sehen sich in der Pflicht, Nostalgie und Amnesie zurückzuweisen – auch wenn sie unterschiedliche Ansichten über die Vorgehensweise und Umsetzung haben.Die Aufgabe ist anspruchsvoll: Der Hangar lädt einen Künstler ein, macht ihn mit der gewaltigen Archivsammlung vertraut, lässt ihn gefilmte Interviews mit den Schlächtern von Sabra und Shatila, den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut, in denen die christlichen Phalange-Milizen 1982 mit Duldung der israelischen Armee ein gewaltiges Massaker anrichteten (von dem Ari Folmans Animationsdokumentarfilm Waltz with Bashir handelt). Er sucht Porträts von Vermissten aus, durchblättert Zeitschriften und Pamphlete der achtziger Jahre, hört den Ausführungen reuiger Milizen zu, spielt mit den Grenzen des Wirklichen. Er gibt den Dingen eine neue Form, schreibt eine Geschichte oder versucht es zumindest. Er verschafft der mündlichen Überlieferung und den beteiligten Personen eine Bühne. Er stattet den öffentlichen Raum aus, entwirft kreative Vermittlungswerkzeuge, bringt das Publikum dazu, Teil einer Installation zu werden, sich vom Zuschauer in einen Darsteller zu verwandeln. Er bringt unterschiedliche Erinnerungen gegeneinander in Stellung. Es geht darum, zu experimentieren, etwas zu tun. Zu handeln.Die Erinnerung war ein Brachland. Jetzt ist die Erde fruchtbar, die Geräte stehen bereit. Der Hangar ist ein politischer und künstlerischer Zwischenraum, weder Insel noch Oase. Er dient als Bindeglied zwischen ästhetischen, kulturellen Formen und jenem Moment der Erregung, des Begehrens und des Fragens, der uns inmitten des Durcheinanders der Vorstadt begleitet, inmitten der knatternden Mofas, der vom Licht gewaschenen Porträts – um zu versuchen, Licht auf die Gegenwart zu werfen.
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