Zweihundert Jahre nach seiner Geburt wurde Charles Darwin zum Medienstar. Seine Evolutionstheorie wird heute nicht bloß als Werk der empirischen Wissenschaften gefeiert, sondern auch als Lebensgefühl, nicht selten als Lebensratgeber. Von Darwin lernen, heißt siegen lernen bei der Karriere und bei den Frauen, versprechen seine Nachfolger und schreiben Bücher, die mitunter seltsame Blüten treiben.
Völlig ohne mediale Beachtung feierte Carl R. Woese vergangenes Jahr seinen 80. Geburtstag. Den größten Teil seines Lebens hat er sich mit der Biochemie von primitiven Einzellern beschäftigt und hat dabei Entdeckungen gemacht, die bislang nur von seinen Forscherkollegen für spektakulär gehalten werden. Die heute anerkannte Taxonomie der Prokaryonten ist sein Werk. Von der großen Synthese seiner Entdeckungen zu einer neuen Evolutionstheorie existieren bisher nur einige Aufsätze in Fachzeitschriften.
Es mag sich verwegen anhören, in der Welt unscheinbarer Mikroben den Anlass zum Umsturz des darwinistischen Zeitalters zu suchen. Doch Einzeller sind biochemisch weit komplexer, als man beim Blick durch ein Mikroskop vermuten könnte. Schaut man nicht auf das Aussehen, sondern die Chemie des Stoffwechsels, erkennt man, dass sämtliche Tiere und Pflanzen ganz eng verwandte Geschwister sind in einem Ozean des Lebens, der sehr viel exotischere Arten enthält.
Es war bei dem Versuch, die Verwandtschaftsverhältnisse unter den Exoten genau zu klären, als Woese seine entscheidenden Entdeckungen machte. Um Verwandtschaftsfragen zu klären, macht man bekanntermaßen am einfachsten einen Gentest: Je mehr Abweichungen, desto weiter in der Vergangenheit lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von zwei heutigen Arten. Das Verfahren funktionierte gut, bis Woese die drei Domänen des Lebens identifiziert hatte. Vor rund dreieinhalb Milliarden Jahren lebten die Urahnen der heutigen Bakterien, der Archaea und der Eukaryonten.
Aber nicht weiter! Bevor sich die drei Domänen des Lebens in einem schon ziemlich weit fortgeschrittenen Entwicklungszustand herausgebildet hatten, ließ sich kein weiterer Vorfahre identifizieren, ja, das Konzept der „Art“ schien in der frühen Zeit der Evolution zu scheitern. Der Stammbaum des Lebens zerfasert in den unteren Schichten wie eine Filzmatte.
Der grausame Züchter
Einfache Lebewesen vermehren sich durch Zellteilung. Viel später in der Evolution entstand die sexuelle Fortpflanzung mit zwei Eltern pro Nachkommen. In beiden Fällen übertragen sich die Erbanlagen vertikal von Vorfahren auf Nachkommen – abgesehen von gelegentlichen Variationen, den genetischen Mutationen.
Darwins Verdienst war es, einen Mechanismus zu beschreiben, wie aus seltenen und rein zufälligen Variationen eine Entwicklung in Richtung zunehmend ausdifferenzierter und angepasster Arten entstehen kann. Kernbegriffe sind dabei „Nachkommensüberschuss“ und „natürliche Selektion“: Wenn die Eltern in der Regel weit mehr Nachkommen produzieren als später überleben und selbst wieder Nachkommen haben, dann werden nicht alle Variationen der elterlichen Erbanlagen in späteren Generationen fortbestehen. Die Auswahl der überlebenden Merkmalsvariationen unter den Nachkommen nannte Darwin „survival of the fittest“. Die natürliche Umwelt übernimmt die Rolle eines Züchters, der unangepasste Nachkommen ausselektiert. In emotionsloser Grausamkeit entfaltet sich die darwinistische Evolution.
Woeses spektakuläre Entdeckung im Reich der Mikroben war der „horizontale Gentransfer“. Zwei Mikroorganismen berühren sich und tauschen über einen Kanal in ihrer Zellwand frei ihre Gene aus. Wie Sex, nur dass man nicht erst auf das Heranwachsen der nächsten Generation warten muss, um den Erfolg der neuen Genmischung zu sehen. Wie Sex von so entgrenzter Innigkeit, dass die Geschlechtspartner schon ihre aktiven Gene mischen, nicht bloß die, die sie vererben.
Der horizontale Gentransfer ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass sich Medikamentenresistenzen so schnell unter Krankheitserregern verbreiten. Hätten die Erreger der Tuberkulose nur die Möglichkeit, sich darwinistisch weiterzuentwickeln, wären sie dank Penizillin längst ausgerottet. Aber Mycobacterium tuberculosis besitzt leider noch in geringem Maße eine Fähigkeit, die nach Woese sämtliche Lebewesen auf der frühen Erde hatten: sich frei und über Artengrenzen hinweg aus dem Genpool ihrer Umwelt zu bedienen.
Im horizontalen Gentransfer liegt die Lösung des Rätsels, warum in der frühen Evolution des Lebens auf der Erde der Art-Begriff nicht mehr anwendbar ist: Die Gene sind damals frei zwischen den verschiedenen Individuen flottiert. Eine einmal entstandene Mutation, die in einer Nische von Vorteil war, beispielsweise ein neuer Stoffwechselprozess, der neue Energiequellen der Umwelt aufschließt, hat sich dank horizontalem Gentransfer sofort unter allen Individuen verbreitet. Dass die freizügig getauschten Gene von Vorteil sind, jedenfalls nicht schädlich, ergibt sich einfach daraus, dass der Tauschpartner mit dieser Genausstattung offenbar überlebt hat. Und je besser die Gene seine Vermehrung durch Zellteilung gefördert haben, desto wahrscheinlicher wird es, bei einem zufälligen Tauschpartner genau diese erfolgreichen Gene einzuheimsen.
Eine „Art“ ist in einem solchen Umfeld nichts Feststehendes, keine starre, genetisch definierte Entität, sondern – in einer Metapher von Woese – wie ein stabiler Wirbel in einer turbulenten Strömung. In einem anderen Ökosystem bildet die Strömung andere Wirbel.
Der erstarrte Egoist
Die Natur kümmert sich nicht darum, was wir über sie denken. Das am weitesten verbreitete Missverständnis des Darwinismus wird von der Philosophie „naturalistischer Fehlschluss“ genannt – der Schluss vom Sein auf das Sollen; von der Tatsachenfeststellung, dass die Natur bestimmten Gesetzen unterworfen ist, auf die Behauptung, dass diese Gesetze für unsere menschlichen und moralischen Belange erstrebenswert seien. Gegen den naturalistischen Fehlschluss spricht nicht nur, dass er die Freiheit und Verantwortung, unsere Lebensumstände nach unseren eigenen, besten Maßstäben zu gestalten, leugnet, sondern auch ein pragmatischer Einwand: Keine der Behauptungen über die Natur, auf die sich das Naturrecht je berufen hat, ist immun gegen den wissenschaftlichen Fortschritt.
Es ist eine wissenschaftliche Tatsache, dass die Entstehung und Ausdifferenzierung der Tier- und Pflanzenarten durch den von Darwin beschriebenen Mechanismus stattgefunden hat. Aber schon die Behauptung, dass durch dieses Wechselspiel aus Überschussproduktion und Selektion ein besonders effizienter Mechanismus beschrieben sei, um eine optimale Anpassung und Ressourcenverwertung der so entstandenen Arten zu erreichen, ist reine Spekulation. Nicht erst die Frage, ob es erstrebenswert ist, in menschlichen, kulturellen Belangen den darwinistischen Überlebenskampf zu imitieren.
Faszinierend an Woese ist, dass er Darwin nicht widerlegt oder ersetzen will, sondern einbettet in ein größeres, umfassenderes Bild. Und plötzlich schlägt die weltanschauliche Ausmalung, die sich Populärphilosophen nach Darwin voreilig von unserer biologischen Existenz gemacht haben, in ihr genaues Gegenteil um. Vorher der rücksichtslose Kampf ums Überleben, eine Fixierung auf Selektion und Konkurrenzdenken. Jetzt Fortschritt durch den freien Austausch unter Geichgestellten. Großzügiges Schenken und Beschenktwerden erweist sich als eine sehr viel bessere Strategie zur Beschleunigung der Entwicklung und zur effizienten Ausnutzung von Ressourcen. Fast könnte man glauben, dass der biologistische Reduktionismus bald nicht mehr die Domäne rassistischer Sozialdarwinisten sein wird, sondern von Anhängern kommunistischer Sozialutopien.
Woese konnte zeigen, dass sich nach der Entstehung der ersten Urzelle des Lebens in Windeseile von nur ein paar hundert Millionen Jahren ein großer Teil des genetischen Reichtums aller heutigen Lebensformen entwickelt hat. Diese enorme Evolutionsgeschwindigkeit lässt sich jetzt erklären: Die ersten Lebenszellen genügten noch offenen Standards und ermöglichten den freien horizontalen Genaustausch zwischen modular organisierten Stoffwechselprozessen. Die evolutionäre Problemlösung einer Zelle konnte sofort von den anderen Zellen übernommen werden.
Aber schließlich, nachdem alle größeren Herausforderungen der Umwelt an die biochemische Organisation von Leben erfolgreich bewältigt waren, haben einige Zellen angefangen, sich den Luxus von Egoismus zu leisten. Sie entwickelten sich in einer Weise weiter, die die offenen Standards des freien Genaustauschs verletzte. Sie wurden zu eigenen, abgetrennten Arten. Und sie haben überlebt, weil eben die Natur keine neuen, großen Herausforderungen mehr an sie gestellt hat. Woese spricht von der „Darwinschen Schwelle“, dem Ende des horizontalen Genaustauschs und Beginn der Evolution nach der Methode „Nachkommensüberschuss und Selektion“.
Der freizügige Herrscher
Das Resultat war dramatisch. Mit dem Auftauchen der ersten abgetrennten Arten, die ihre Gene nur mehr vertikal auf Nachkommen übertragen konnten, kam die Weiterentwicklung des Lebens erst einmal für fast drei Milliarden Jahre fast völlig zum Erliegen. Für den größten Teil der Erdgeschichte war „Leben“ gleichbedeutend mit einer schleimigen Masse, wie man sie an ungeputzten Abflussrohren findet. Effizienz und Zielgerichtetheit sind jedenfalls gerade keine Begriffe der Evolutionstheorie.
Erst vor etwa 540 Millionen Jahren, im Erdzeitalter des Kambriums, kam die Entwicklung wieder auf die Sprünge und seither entstehen mit schwankender Entwicklungsgeschwindigkeit mal ein Überangebot an neuen Arten, die dann zum größten Teil wieder aussterben: Die Evolution hatte die sexuelle Fortpflanzung erfunden, was im Vergleich zur bloßen Zellteilung zu einer großen Verbesserung des genetischen Austauschs geführt hat, freilich nicht so gut wie beim horizontalen Gentransfer.
Und heute? Eigentlich bedarf es keiner großen Einsicht, um zu sehen, dass die menschliche Kultur und alles, was uns wichtig ist, sich eher horizontal als vertikal verbreiten. Sicher, eigene Kinder sind eine Quelle vieler Freuden. Aber es ist eine Binsenweisheit, dass Kinder spätestens ab der Pubertät keine idealen Träger mehr sind für die Werte und Ideen ihrer leiblichen Eltern. Wer das Bedürfnis hat, möglichst viel von sich in spätere Generationen zu übertragen, sollte ein Buch schreiben, ein Kunstwerk erschaffen oder eine Stiftung gründen, vielleicht auch politisch aktiv werden oder sich sozial engagieren – es gibt viele Möglichkeiten. Aber Kinder zeugen?
Es gibt keinen gefährlicheren Irrglauben als die Meinung, die Produktion von großen Mengen erbgesunder Nachkommen sei notwendig für das Überleben der Zivilisation. Fortgeschrittene und dynamisch anpassungsfähige Systeme leben vom horizontalen Austausch ihrer Ideen, Waren und Kulturen – weil das der mächtigste und effizienteste Mechanismus ist, sich im freien Wettbewerb durchzusetzen.
Zuletzt hat unsere Zivilisation nicht nur im Bereich der Ideen, sondern, nach einer Unterbrechung von dreieinhalb Milliarden Jahren, auch wieder bei den Genen mit dem horizontalen Austausch angefangen. Mittels Gentechnik ist es wieder möglich, genau die Gene, die man für nützlich hält, frei zu mischen. Wir können gefahrlos die darwinistische Grausamkeit hinter uns lassen, Massen von Individuen nur deshalb von der Fortpflanzung auszuschließen, weil sie zufällig eine vermeintlich ungeeignete Genmischung in sich tragen. Früher konnte ein einzelnes Gen den Tod der ganzen Nachkommenschaft bedeuten; heute tauschen wir es einfach aus und bewahren den wertvollen Rest. Dass Menschen zu sozialen Wesen geworden sind, die Fortpflanzung nicht an das vermeintliche Recht des Stärkeren binden, ist ein Zeichen unserer Macht und Anpassungsfähigkeit, nicht, wie blinde Ideologen meinten, von Degeneration. Und von Woese lernen, heißt Siegen lernen.
Geboren am 15. Juli 1928 in Syracuse, Bundesstaat New York, studierte Carl R. Woese in Amherst, promovierte in Yale und ist seit 1964 Professor an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Sein revolutionärer Beitrag zur Evolutionstheorie steht in einer langen Reihe von Forschungsarbeiten aus den Bereichen Biophysik, Molekularbiologie und Genetik, unter anderem auch über die Chemie der Ursuppe und die Entstehung der ersten Lebensformen. Ausgezeichnet wurde Woese unter anderem mit der Leeuwenhoek Medaille 1992, die als höchste Ehre im Feld der Mikrobiologie nur alle zehn Jahre vergeben wird, und 2003 mit dem Crafoord-Preis der Schwedischen Akademie der Wissenschaften für die wichtigste Grundlagenforschung in all denjenigen Disziplinen, die der Nobelpreis nicht abdeckt.
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