Generation Bausparvertrag

Hip-Hop New York kratzt, New Orleans bounct – und wie klingt die schwäbische Kleinstadt? Diese Frage beantwortet das neue Album von RIN
Ausgabe 44/2021
RIN möchte seiner Heimatregion endlich ihren eigenen Sound verleihen
RIN möchte seiner Heimatregion endlich ihren eigenen Sound verleihen

Foto: Imago/Martin Müller

Es ist beeindruckend, wie sich lokale Eigenheiten im Hip-Hop US-amerikanischer Großstädte über Jahrzehnte niederschlagen. In New York baut man auf Jazz-Samples und kratzige Drums, in Los Angeles dominieren Synthesizer, und im Süden der USA geht der Bass des Roland-TR-808-Drumcomputers durch Mark und Bein. Die Bounce-Musik aus New Orleans zieht Inspiration aus den Gesängen des örtlichen Mardi Gras, der Erfolg von Crunk und Miami Bass ist vor allem der Verknüpfung der Musik mit dazugehörigen Tänzen zu verdanken, und der weltweite Erfolg von Trap wäre ohne die tatsächlichen Drogenumschlagplätze in Atlanta nicht denkbar.

Deutsche Hip-Hop-Hochburgen wie Berlin, Frankfurt und Hamburg haben zwar sicher ein Image, aber keine kulturelle Verwurzelung, wie sie in den USA zu beobachten ist. Dabei gibt es auch im deutschen Süden eigenartige Begebenheiten: Mit RIN, Bausa und Shindy haben drei der größten Rapstars des Landes ihre Heimat in Bietigheim-Bissingen, einem Städtchen nahe Stuttgart, das ansonsten höchstens für die Automobilindustrie Relevanz hat. Mit seinem neuen Album Kleinstadt möchte RIN der Region endlich ihren eigenen Sound verleihen.

Stattdessen stellt sich schnell heraus: Der Sound der Kleinstadt ist das Zitat der großen weiten Welt. Das mit Liebeskummer durchtränkte Meer zitiert Nirvanas Heart-Shaped Box, mit Dirty South bezieht sich RIN auf den Sound des US-amerikanischen Südens, implementiert für den Refrain sogar das kurze „Yeah“ des Künstlers Lil Jon aus dessen gleichnamiger Hitsingle mit Usher. An anderer Stelle bezieht sich der 27-Jährige auf zeitgenössischen US-Rap à la Baby Keem und Travis Scott sowie deutschen Indie-Pop. Lieder wie Apple und 5-Star Stunna leben auch textlich vom Namedropping mit popkulturellen Stichworten. RIN erwähnt Zeichentrickserien, US-Rapper, Hollywood-Stars, Golf-Champions und natürlich einige teure Markennamen, Feature-Gast Schmyt träumt in Douglas davon, dass sein Block zu Havanna und das Sonnenstudio zur Ägäis wird. Der Referenzrahmen ist durch und durch globalisiert.

Tilman Kuban wird das hören

Zwischen den Verweisen auf eine längst deterritorialisierte Popkultur wird es dann schwäbisch-kleinstädtisch, wenn RIN in beinahe jedem Track deutsche Kleinwagen thematisiert. Hinzu kommen überdimensionierte Einfamilienhäuser und Lenkräder aus Wurzelholz, „sehr viel Arbeit und sehr viel Stress“ und Massivholzdielen. Schaffe, schaffe, Häusle baue. Musik für Menschen, deren jugendliche Rebellion sie geradewegs zu einem Bausparvertrag führen wird.

Provinzieller wird es bloß noch, wenn RIN beschreibt, dass die Polizei ihn anhält, „weil ich nicht so ausseh, wie ich in ihren Augen sollte“, dass ihn beim Einparken böse Blicke treffen und bloß die Kellner Freundlichkeit künsteln. Das eben ist das Problem der Kleinstadt: Sie denkt größer, als sie ist. Und wer es wirklich aus diesem Mindset heraus zu Ruhm und Bekanntheit schafft, der passt nicht mehr in die eingeschworene Gemeinschaft. Erst im letzten Track kommt RIN wirklich auf die Dinge zu sprechen, die seine Liebe zur Kleinstadt charakterisieren: Familie, Freundschaft, Glaube. Tilman Kuban von der Jungen Union wird dieses Album hören, er wird dabei weiße Sneaker tragen, und das Bild wird stimmig sein.

Kleinstadt RIN Gold League 2021

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