Genfood Mitte April tritt in der EU die Kennzeichnungsverordnung in Kraft - Verbraucher können wählen und die Lebensmittelwirtschaft signalisiert Verzicht
Die Luftröhre wie zugeschnürt - allergisches Asthma. Eigentlich hatte Konrad Gernsberg sein Leiden doch im Griff gehabt. Nüsse hatte der Arzt als Allergen ausgemacht. Also ließ der 30-jährige Studentenfutter, Schokolade, Erdnusscreme und Müsliriegel weg. Und auch jetzt hatte er doch nur Sojamilch getrunken. Doch seit an Soja mit eingeschleusten Erdnuss-Genen gearbeitet wird, wird der bisher hypothetische Notfall vorstellbar. Nur massive Proteste von Allergiker-Organisationen stoppten jetzt das Experiment eines großen Lebensmittelkonzerns - vorläufig.
Rund 80 Prozent aller Deutschen lehnen laut unterschiedlicher Umfragen das so genannte Gen-Food ab. Und sie sind nicht allein. Durchschnittlich 70 von 100 Europäern wollen kein genmanipuliertes Essen
rtes Essen auf dem Tisch haben. Mächtige Zahlen. Seit 1998 bestand in der EU deshalb ein Moratorium für die Einfuhr und Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen, im Fachjargon GVO. Eine Klage der USA vor der Welthandelsorganisation WTO auf Schadenersatz durch entgangene Gewinne (angeblicher Exportausfall: 300 Millionen Dollar jährlich) führte zur jetzt in Kraft tretenden Kennzeichnungsverordnung der EU.Sichtbar auf der Packung"Genetisch verändert" oder "aus genetisch verändertem ... hergestellt". So oder so ähnlich soll es laut EU-Vorschrift bald auf den bunten Verpackungen stehen, wenn Lebensmittel, deren Zutaten, Zusatzstoffe oder Vitamine aus einem mittels Gentechnik veränderten Organismus stammen oder genetisch veränderte Mikroorganismen enthalten. Irgendwo eingereiht in die Liste der Zutaten. Bei Schokolade beispielsweise könnte zwischen Zucker, Kakao und Milchpulver dann in einem Monat "Lecithin aus gentechnisch verändertem Soja hergestellt" stehen. Polenta aus Maisgrieß würde den Zusatz "aus genetisch verändertem Mais" enthalten. Und loses Gemüse wie etwa Kartoffeln, denen um des Geschmacks Willen ein Schneeglöckchen-Gen eingeführt wurde, müssten im Zweifel neben "vorwiegend festkochend" den Zusatz "genetisch verändert" am Schild tragen. "Transparenz beim Einkauf" nennt das die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Renate Künast (Bündnis90/Grüne). "Türöffner für Gentechnik im Regal" nennen die Regelung Kritikerverbände. Denn schon bei Fleisch, Käse oder Eiern zeigt die Kennzeichnungsverordnung ihre Schwächen. Bei Endprodukten von Tieren, die mit Gen-Mais und -Soja gefüttert wurden, besteht laut EU-Verordnung keine Kennzeichnungspflicht mehr.Die Liste wird längerAlles, was aus Mais oder Soja hergestellt wird, kann schon jetzt genetisch verändert worden sein. An den beiden Pflanzen wird schon lange manipuliert. Im Supermarkt finden wir sie nicht nur in besonders gaumenfreundlichem Mais aus der Dose, der während seiner Zeit auf dem Acker mittels eines Killergens allerlei Insekten getötet hat. Wir finden sie zum Beispiel in Schokolade, Pudding, Marzipan, Speiseeis, Nuss-Nougat-Cremes, Margarine, Mayonnaise, Backwaren und Backmischungen aller Art. Dort heißen sie dann Stärke, Öle, Dextrose, Lecithin, Invertase, Vanillin oder Zuckeraustauschstoff. Wohl gemerkt: Nicht jeder Bestandteil muss in Zukunft aus genetisch verändertem Material hergestellt worden sein. Kann er aber. Und zumindest im Fall Soja ist er das vermutlich auch. Denn Soja wird in den großen Anbaugebieten der Welt außer in Brasilien kaum noch unmanipuliert angebaut. Und auch das letzte gentechnikfreie Bollwerk Brasilien ist kürzlich gefallen. In einem Rechtsstreit mit dem US-Gentechnik-Multi Monsanto konnte das Schwellenland nicht länger stand halten. Das bisherige Einfuhrverbot für gentechnisch verändertes Saatgut wurde vor rund zwei Monaten aufgehoben.Auch Bier könnte in naher Zukunft unrein werden. Eine gentechnisch hergestellte Bierhefe, die das Bier weniger kalorienhaltig werden lässt, gibt es bereits. Es liegt am Verbraucher, ob sie zum Einsatz kommt. Dasselbe gilt für Wein. In fünf Jahren, so schätzen die Gentechnik-Forscher, könnten Weinreben mittels Gentechnik so verändert worden sein, dass sich der bei Winzern unbeliebte Schimmelpilz gar nicht erst festsetzen kann. Ein Gen mit Namen Chitinase wird dafür aus Gerste extrahiert und in den Genpool des Rieslings eingebaut. Die Weinrebe wird für den Parasiten damit tödlich. Auch Lachse werden bereits mittels Gentechnik verändert. Erste Versuche, die Größe durch den Einbau von Rinder- und Menschengenen zu verändern, waren nur bedingt erfolgreich. Zu unzuverlässig das Ergebnis. Jetzt werden Fische untereinander gentechnisch gekreuzt. Marktreife der Lachse in wenigen Jahren. Als nächstes sollen überdimensionale Karpfen und Forellen folgen. Weil diese gemäßigt warmes Wasser lieben, wird jetzt daran gearbeitet, ihnen ein Gen aus der Flunder einzuverleiben. Das Gen steuert ein Protein names AFP, das ihr Blut nicht gefrieren lässt. Koffeinfreier Kaffee ist in der Erprobung, Reis erhält Vitamine, Bohnen sollen in Zukunft weniger Blähungen verursachen. Gesund oder gefährlich?Das International Council of Science (ICSU), ein internationaler Zusammenschluss von Forschungsinstituten mit Sitz in Paris, kommt in einem Report vom Juni 2003, der 600 Einzelstudien ausgewertet hat, zu einem scheinbar klaren Ergebnis: "Die derzeit erhältlichen genmanipulierten Lebensmittel können so gefahrlos verzehrt werden, wie ihre konventionellen Gegenstücke." Also alles halb so schlimm? Keine Gefährdung der Gesundheit durch den Verzehr von gentechnisch veränderten Lebens- und Genussmitteln? Nein, soweit will man dann doch nicht gehen: Ein Restrisiko bleibe, so die Forscher. " Es kann nicht garantiert werden, dass auch bei neuen Entwicklungen keine Risiken entstehen werden", gibt das ICSU in seinem Report zu bedenken. Und außerdem fehlten - bei der jungen Wissenschaft naturgemäß - noch Langzeitstudien. Neue Allergien gegen die mittels Gentechnik neu entwickelten Pflanzenproteine werden befürchtet. Antibiotikaresistenzen könnten mittelfristig der Medizin Schwierigkeiten bereiten. Die Menschen könnten immun werden. Denn bei allen Gentechnikversuchen werden Antibiotika als sogenannte Markergene in die Pflanzen eingebaut, damit Erfolg oder Misserfolg der Genmanipulation sichtbar werden.Aus Pflanzen- und TierweltSojabohnen, die mittels Gentechnik gegen Herbizide resistent gemacht wurden, entwickelten häufig Stengel mit einem unerwartet hohen Holzgehalt und brachen in den heißen Klimazonen einfach auf.Die Flavr-Savr-Tomate galt lange Zeit als große Hoffnung aller Gemüsehändler, denn sie fault langsamer als ihre Artgenossen. Doch sie erwies sich auch als schlecht transportierbar, weil sie sehr leicht platzt. Die Fachzeitschrift Biotechnology vermutet, dass der innere Druck, der sie so prall aussehen lässt, so hoch ist, dass er die Außenhaut zerreißt.Aus Iowa kommt die Meldung von Schweinezüchtern, die einen neuen Gen-Mais verfüttert hatten. Zahlreiche Sauen entwickelten Scheinschwangerschaften. Nur jeder fünfte dicke Bauch der Schweine gebar am Ende ein Ferkel. Auf manchen Höfen sank die Geburtenrate bei den Schweinen um 80 Prozent. Alle betroffenen Farmer hatten den gleichen veränderten Mais verfüttert. Die Milchproduktion von Kühen, die ein neues gentechnisch verändertes Spezialfutter gefressen hatten, gaben deutlich mehr Milch als ihre Artgenossen. Das war geplant und erhofft worden. Aber mehr Kühe als üblich brachten missgebildete Kälber zur Welt.1998 musste der Konzern Nestlé bei der Markteinführung seines ersten Gen-Schokoriegels "Butterfinger" feststellen, dass niemand Gentechnik essen wollte. Der Versuchsballon zerplatzte, der Gen-Riegel kratze am Ruf des Konzerns, die EU führte das Moratorium ein. Mittlerweile haben Unternehmen wie Nestlé, Lidl und Unilever gegenüber Greenpeace versichert, auf gentechnisch veränderte pflanzliche Rohstoffe in ihren Eigenmarken zu verzichten. Kürzlich hat die Metrogruppe nachgezogen. Bei real, Extra und Kaufhof will sie in ihren Eigenmarken auf GVO verzichten. Aber frei von manipulierten Produkten bleibt der Lebensmittelmarkt in Deutschland nicht. 18 Handelsunternehmen wollen Gentechnik nicht ausschließen, darunter große Konzerne wie Aldi und Tengelmann.
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