Weltretter Stanislaw Petrow hatte gelernt: Glaube den Computern! Dann zeigten die plötzlich einen US-Atomangriff an. Zu Besuch bei einem Mann, der zum Glück zweifelte
Weltenretter trifft man anders als in Hollywood-Filmen nicht bei Whiskey Sour an der Hotelbar. „Kommen Sie ruhig vorbei“, hatte Stanislaw Petrow am Telefon gesagt, „aber sie müssen nach Frjasino kommen. Ich fahre nur selten nach Moskau rein. Das ist mir zu laut.“ Eine warme, klare Stimme war das am Telefon gewesen. Seine Telefonnummer hatte das militärische Verwaltungsamt, das in Russland immer noch Kriegskommissariat heißt, nach einigem Insistieren herausgegeben. „Aber erwarten Sie nicht zu viel“, hatte Petrow gleich vorgebaut. Er sei es leid, verehrt zu werden. „Ich bin kein Held!“
Es braucht etwas Geduld um nach Frjasino zu gelangen. Von der Endhaltestelle der überfüllten U-Bahn-Linie 3, mitten im realsozialistische
alistischen Plattenbau, ist es noch eine zweistündige Busfahrt in die Oblast Moskau – jenes Moskauer Umland, das wirtschaftlich gut entwickelt ist, dessen endlose Wohnblockreihen aber bei Nieselregen furchtbar traurig aussehen.Petrow wartet in Jeans und brauner Stoffjacke an der Bushaltestelle in Frjasino. Seinen Regenschirm hat er nicht aufgespannt. Einen „kalten Krieger“ stellt man sich anders vor. Freundlich zwinkert der 70-Jährige über den Rand seiner dicken schwarzen Hornbrille und lädt den Reporter zu sich nach Hause ein. Er freue sich immer über Besuch, ansonsten würde er viel spazieren gehen und russische Geschichtsbücher lesen. Auf schmalen Wegen geht es entlang der Hauptstraße an Plattenbauten vorbei. Von ein paar Wiesen und kleinen Lädchen abgesehen ist alles so grau wie der Himmel. Bis Petrow, mit zurückhaltenden Gesten, von sich zu erzählen beginnt.Eigentlich hätte er in jener Nacht, in der er vielleicht die Welt gerettet hat, gar keinen Dienst gehabt. Aber da ein anderer Offizier krank geworden war, hatte Petrow das Kommando übernommen, auf der zweiten Etage des abgedunkelten Kontrollraums, von dem aus die Sowjetunion die US-amerikanischen Atom-Raketensilos überwachte. Das große Kontrollpult zeigte auf einem der Monitore eine Darstellung der USA mit den sechs US-Stützpunkten der Minuteman-II-Raketen: 250 Abschussrampen mit etwa 1.000 Atomraketen.„Wissen Sie“, sagt Petrow, „ich weiß gar nicht mehr das genaue Datum. Ich habe mindestens vier verschiedene im Kopf.“ Aber an den blitzartigen Schock erinnert er sich genau, als in jener Nacht Ende September 1983 die Alarmsirene losheulte. An der Kontrollwand blinkte ein riesiger Schriftzug, der vorher noch nie jemandem aufgefallen war. In blutroten Lettern leuchtete das Wort „Start“ und ein blinkender Punkt auf Petrows Bildschirm zeigte den Abschuss einer Rakete auf die Sowjetunion an. Petrow blieben knapp 25 Minuten Zeit, um den Abschuss seinen Vorgesetzen zu bestätigen oder als Fehlalarm einzustufen, dann spätestens hätte der Generalstab der Armee und Generalsekretär Juri Andropow über den nuklearen Vergeltungsschlag entscheiden müssen.Gefragt habe ihn damals niemand, ob er an einem solchen Frühwarnsystem mitarbeiten wolle. Er hatte Radio- und Elektrowellentechnik in Moskau studiert und wurde während seines Militärdienstes zum Systemanalytiker und Algorithmiker ausgebildet. Als er 1972 zum ersten Mal in die Bunkerstation nahe Moskau gebracht wurden, habe er gar nicht gewusst, wohin sie fuhren. Das Projekt eines Frühwarnsystems existierte offiziell gar nicht. Das Gelände war riesig, leere Rohbauten ohne Fenster – alles war noch im Entstehen und die Zeit drängte, da die Russen den USA hinterherhinkten. 1976 arbeiteten die Sowjets in Tests mit den ersten Sputniks und kurz darauf war das System in vollem Betrieb.Petrow bleibt kurz an einer Ampel stehen und hebt drohend den Arm: „Ab dem Jahr 79 war ein unbemerkter Angriff auf die Sowjetunion nicht mehr möglich. Da konnte Ronald Reagan 1983 noch so sehr mit der Faust und einem ‚Krieg der Sterne’ drohen.“ Das Jahr 1983 markierte nach dem so genannten Tauwetter der 70er eine neue Eiszeit zwischen NATO und Warschauer Pakt und mit US-Präsident Ronald Reagan, der die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnet hatte, und dem sowjetischen Generalsekretär Andropow, dem Ex-KGB-Chef, standen sich zwei Hardliner gegenüber. Als Anfang September 83 die sowjetische Luftwaffe eine südkoreanische Passagiermaschine abschoss, war „die Stimmung auf beiden Seiten aufs Äußerste gereizt“, erinnert sich Petrow, „und genau in diese heiße Phase fiel jene Nacht, in der für uns das erwartete Unerwartete eintraf.“500 Dollar von Kevin CostnerDie Wohnung, in der Petrow heute wohnt, ist eine von den vielen hunderttausenden, die die russische Regierung Staatsbeamten und hochrangigen Ex-Militärs als Entschädigung für ihre geringe Rente preiswert verkauft hat. In der Küche bietet Petrow dem Gast ein Glas Wasser an: „Entschuldigen Sie die schlichte Einrichtung. Seit dem Tod meiner Frau wohne ich allein mit meinem Sohn hier – ein reiner Männerhaushalt.“ Das geschweifte Tapetenmuster und die braune Ledersitzecke, auf die sich Petrow setzt, sind vermutlich aus den 70er Jahren. Hinter ihm an der Wand hängt eine Sternenkarte, an einer anderen ein Marienbild. Am Kühlschrank gegenüber klebt ein Magnet mit dem Motiv der Golden-Gate-Brücke. Den habe er sich als Souvenir mitgebracht, als er 2004 in San Francisco die Weltehrenbürger-Urkunde verliehen bekommen hat. 1998 hatte Petrows ehemaliger Chef, Generaloberst Jurij Wotinzew, den Vorfall in einem Interview publik gemacht. Der Verein der Weltbürger dankte Petrow als „hero of our times“ und überreichte ihm eine Glasskulptur: Eine Hand, die eine gläserne Weltkugel hält. Petrow lässt die Kugel in der Glashand rotieren und erinnert sich an den kritischen Moment seiner Entscheidung.Die Instruktionen, was beim Abschuss einer feindlichen Atomrakete zu tun sei, hatte Petrow selbst geschrieben, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. „Fluchen war auf keinen Fall erlaubt!“ Über Lautsprecher habe er alle aus ihrer Starre gerissen: „Die Systeme überprüfen! Zusätzliche Informationen einholen!“ Petrow war klar, sie durften den Zeitvorsprung des Frühwarnsystems nicht verschenken. Während die herkömmlichen Radarsysteme die Raketen erst registrierten, wenn sie am Horizont auftauchten und noch circa zwölf Minuten zum Einschlag gebraucht hätten, ermöglichte ihr System der Führung des Landes einen Entscheidungsspielraum von bis zu 25 Minuten.Diverse Information liefen bereits über Petrows Display: alle Computersysteme funktionierten einwandfrei – und alle Computerdaten bestätigten den Start der Rakete. Dennoch war auf den Infrarotbildern der US-Raketenbasis nichts Genaues zu erkennen. Irgendetwas stimmte nicht. In der Küche kratzt sich Petrow am Kopf und zeigt auf die Sternenkarte hinter ihm: „Der Himmel hält immer Überraschungen bereit.“ So habe er auch damals gezögert, obgleich er damit seinen eigenen Vorschriften zuwider handelte, denn emotionslose Computerergebnisse waren normalerweise der wankelmütigen menschlichen Abwägung vorzuziehen – so die damalige Arbeitsdoktrin. Sollte er nun dem Computer oder sich selbst vertrauen? Letztlich gab eine russische Redewendung den Ausschlag: „Ich wollte nicht den ‚Hühnerstall-Effekt’ bewirken – Wenn ein Hahn morgens kräht, obwohl die Sonne noch gar nicht aufgegangen ist, krähen alle anderen trotzdem mit...“ Mit anderen Worten: Wenn er den Start bestätigt hätte, wäre vielleicht das Ergebnis der nachgelagerten Radarüberwachung gar nicht mehr abgewartet worden. „Es war eine 50:50 Entscheidung.“ In seiner Ausbildung habe er gelernt, dass die Amerikaner im Falle eines Atomschlags nicht mit einer Rakete, sondern mit allen Raketen gleichzeitig angreifen würden. Als Petrow gerade zum Telefon greifen wollte, um seinen Vorgesetzen einen Fehlalarm zu melden, heulte die Sirene erneut los. „Ich starrte gebannt auf den Monitor.“ – Das System hatte den Start einer zweiten Rakete registriert.Petrow blättert in alten Fotos, die vor ihm auf dem Küchentisch liegen: Schwarz-Weiß-Bilder aus seiner Ausbildungszeit; Privatfotos mit seiner Frau und seinen Kindern. Ein Porträtbild zeigt ihn stolz in Offiziers-Uniform und mit festem Blick: „Sehen sie, wie jung ich war? Ich war überzeugt, an einer guten und wichtigen Sache mitzuwirken.“ Und heute? Da lächelt er und schweigt. An seine Familie habe er in jener Nacht im Moment der Entscheidung gar nicht denken müssen. Auch nicht an die persönlichen Konsequenzen für ihn. Das ging alles in der Anspannung viel zu schnell. „Mein Hirn ratterte die Fehlersuche durch wie ein Computer.“ Kaum hatte er trotz des zweiten Alarmsignals seinem Vorgesetzten einen Fehlalarm gemeldet, als die Sirene erneut losschrillte. Ein dritter Raketenstart wurde angezeigt. Und ein vierter. Und ein fünfter.Der Tod braucht 25 Minuten„Was soll das?“, habe er gedacht, „man leert den Wassereimer schließlich auf einmal und löffelt ihn nicht mit dem Teelöffel aus.“ Auf der Kontrollwand vor ihm leuchtete inzwischen blutrot „Raketenangriff“. „Da ich mich aber einmal entschieden hatte, blieb ich bei meiner Einschätzung des Fehlalarms“. Russische Beharrlichkeit: Jetzt mussten sie sich gedulden und auf die Informationen des zweiten Warnsystems, den Radargürtel, warten – und sich nicht zu viele Gedanken machen. Damalige Szenarien rechneten mit mehr als 100 Millionen Tote auf beiden Seiten. „Mit dem Unterschied, dass die einen 20 Minuten früher gestorben wären als die anderen – aus heutiger Sicht sind das wahnsinnige Rechnungen“, sagt Petrow. Nach zehn endlosen Minuten des Wartens gibt das Radarsystem Entwarnung: keine Raketen am Himmel.Noch heute bekommt Petrow Briefe aus der ganzen Welt, die ihm für seine Entscheidung danken und denen Geschenke beigelegt sind. Als seine Geschichte Mitte der Neunziger öffentlich wurde, musste er persönlich auf dem Postamt erscheinen, um die Masse an Briefen und Päckchen in Empfang zu nehmen. Eine Frau aus England hatte ihm ein Pfund Kaffee geschickt. Eine amerikanische Familie schenkte ihm Kassetten mit Englisch-Sprachkursen. Und der Schauspieler Kevin Costner habe ihm 500 US-Dollar überwiesen, erzählt er.In Petrows Station wurde nach dem Vorfall eine Untersuchungskommission eingerichtet, aber den Abschlussbericht hat Petrow nie zu lesen bekommen. „Wahrscheinlich, damit wir nicht zu laut darüber gelacht hätten“, sagt Petrow. Die mutmaßliche Fehlerquelle, eine Planetenkonstellation, die zu jenem Zeitpunkt das Sonnenlicht ungünstig reflektiert habe, blieb unter Verschluss. Petrow selbst arbeitete noch bis 1985 in der Kontrollzentrale, ließ sich dann wegen seiner schwer kranken Frau auf den weniger zeitintensiven Posten eines zivilen Ingenieurs versetzen. Entgegen anders lautenden Berichten wurde er weder bestraft, noch unehrenhaft entlassen – ein offizielles Wort des Dankes hat er aber auch nie erhalten. Die russische Regierung bestreitet bis heute, dass der Fehlalarm gravierende Folgen gehabt hätte, wenn Petrow anders entschieden hätte. Schließlich hätte die Führung vor einer Entscheidung auch andere Quellen herangezogen. Das allerdings hätte bedeutet, den Zeitvorteil des Frühwarnsystems aufzugeben.Auf dem Rückweg zur Bushaltestelle nieselt es immer noch. Petrow stellt sich friedlich rauchend vor einen Coca-Cola-Automaten: „Glauben Sie mir, ich bin gar kein Held, ich habe nur meine Aufgaben erledigt.“ Petrow gibt dem Besucher zum Abschied die Hand und blickt vergnügt über seine Hornbrille hinweg: „Psychologen haben sich stets gefragt, ob man einem einzelnen Menschen die Entscheidung überantworten kann, einen Atomkrieg auszulösen.“ Und so habe man es dem Computer überlassen, die Gefahr einzuschätzen. „Der hat keine Emotionen, der kalkuliert. Meine Arbeit war es, die Situation zu analysieren. Und in diesem Fall war mein Schluss der bessere.“
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