Genosse Trend

Martin Schulz Auf dem SPD-Parteitag wurde der Kanzlerkandidat einstimmig zum Parteivorsitzenden gewählt. Das gab es noch nie. Wie die Anomalie „100 Prozent“ zum Trend werden kann
Ausgabe 12/2017
Im Hunderprozentrausch
Im Hunderprozentrausch

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

In der geschichtlichen Welt, so sagte der Historiker Johann Gustav Droysen, ist nicht die Analogie das Bewegende, sondern die Anomalie. Sie ist das Einzigartige, das Besondere, das nicht Wiederholbare. Im Gegensatz zur Analogie ist die Anomalie etwas, das nicht an anderem gemessen werden kann. Der Erfolgsrausch des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz und damit verbunden der Begeisterungssturm in der SPD und bei den Wählern, die für die SPD erreichbar sind, ist eine solche Anomalie. Und diese hat seit dem vergangenen Sonntag sogar eine Zahl: Auf dem SPD-Parteitag wurde Schulz mit 100 Prozent der Stimmen zum Parteivorsitzenden gewählt. Das gab es noch nie.

Auf welche Weise die Anomalie die geschichtliche Welt bewegt, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Was anomal ist, das ist üblicherweise nicht von Dauer. Die Zeit ist lang, die Anomalie wirkt kurz. Eine Anomalie, die nachhaltig Wirkung ausübte, wäre gar keine Anomalie mehr, sondern wäre auf die Seite der Üblichkeiten gewechselt. So hoffen derzeit die Parteien, die in diesem Jahr bei vier Wahlen mit der SPD konkurrieren, dass der Schulz-Rausch irgendwann – eher früher als später – zu Ende geht und in der Politik wieder normale Verhältnisse einkehren. Solche Hoffnung verkennt eine wesentliche Wirkung der Anomalie: Sie kann keine neuen Verhältnisse, zumindest aber ein neues Szenenbild schaffen.

Es ist, wie wenn man aus einer Flasche, die lange verschlossen war, den Stöpsel zieht. Der Moment, in dem der Korken entfernt wurde, mag Begeisterungsstürme auslösen, die auch wieder abebben. Aber die Flasche, die da geöffnet wurde, ist nun unverschlossen. Der Geist, der aus ihr befreit ist, breitet sich aus. Er ist auf Rausch und Überschwang nicht mehr angewiesen.

Wenn die Stimmung, die jeder Auftritt von Schulz derzeit verbreitet, dazu führt, dass die SPD am kommenden Sonntag überraschend die Landtagswahl im Saarland gewinnt, dann wäre damit ein Faktum geschaffen, dessen Wirkung von der Gegenwart einer Anomalie nicht mehr abhängig ist. Wenn sich dann SPD-Siege im Frühling in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen wiederholen – und zwar deutlicher als bisher erwartet –, dann wird man wieder von einer Analogie sprechen können – und die hört seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den Namen „Genosse Trend“. Der Genosse Trend hat die Kraft, Wähler für sich zu gewinnen, die am Wahltag einfach nur beim Sieger sein wollen. Oder überhaupt wieder die SPD mögen. Oder überhaupt nur den Wechsel. Auch das gehört zur Politik.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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