An die deutsche Einheit hat Russland ganz bestimmte Erwartungen geknüpft. Die Russen, von deren Reaktion damals eigentlich alles abhing, gingen davon aus, dass sich dieser Prozess positiv für sie auswirken würde, nicht zuletzt wegen der traditionellen Funktion Deutschlands als Mittler zwischen Russland und dem europäischen Westen. Die russische Politik dieser Periode war auf den Aufbau eines gesamteuropäischen Hauses gerichtet und hätte eine energische Unterstützung durch das vereinigte Deutschland sehr gut gebraucht. Auch aus diesem Grund wurde die Möglichkeit einer deutschen Vereinigung durch Russland von vornherein akzeptiert.
Wer sich im nachhinein zu Recht für den vorwiegend gewaltlosen, unblutigen und konstruktiven Verlauf der deutschen Einigung begeistert, vergisst meistens, dass all dies dem konstruktiven Verhalten der Russen zu verdanken ist. Das waren immerhin ihre Bündnisse in Osteuropa, deren Aufbau so teuer bezahlt werden musste und denen nun das Aus drohte. Das war ihre militärische Sicherheit, die durch die Entwicklungen in der DDR 1989-1990 in Frage gestellt wurde. Und es war ihr Einfluss in Mitteleuropa, der auf dem Spiel stand, ihre weltweiten Interessen als nuklearer Supermacht, die jetzt einer ungewissen Zukunft überlassen wurden. Dennoch hat keiner in Russland - auch nicht zu den Zeiten, da die UdSSR noch existierte und intakt war - seine Stimme erhoben, um die bestehende Ordnung der Dinge in Europas Mitte gewaltsam aufrecht zu erhalten - kein Politiker, kein Militär, auch kein Demagoge.
Nicht, dass dazu die Kraft nicht mehr gereicht hätte. Die Behauptungen sogenannter Russlandexperten, die UdSSR sei schon damals ohnmächtig gewesen, entbehren jeder Grundlage. Was ihre militärische Stärke betrifft, war die UdSSR durchaus noch intakt. Niemand hätte die Nuklearmacht Sowjetunion wegen irgendwelcher Aktionen in ihrem Einflussbereich ernstlich unter Druck setzen können - auch die USA nicht. Eine ganz andere Sache ist freilich, dass die Russen - wie die meisten anderen Europäer auch - der Konfrontation müde waren. Ihr Streben galt einer freien und demokratischen Gemeinschaft friedliebender Völker: Das war der tiefere Sinn des Rufs nach dem »Gemeinsamen Haus Europa«. Und: Die Russen wollten Ruhe nach außen für ihre überreifen inneren Reformen.
All das erklärt, warum Moskau eine aktivere internationale Rolle des vereinten Deutschland nicht nur in Kauf nahm, sondern geradezu herbeigesehnt hat. Man glaubte daran, dass die Deutschen mit ihren historischen wie aktuellen Erfahrungen zu Vorreitern beim Aufbau Europas unter Einschluss Russlands würden, zu Architekten eines umfassenden Systems der kollektiven Sicherheit auf dem Kontinent, zu verlässlichen Partnern Russlands auf dem gemeinsamen Weg Europas ins neue Zeitalter. Die meisten russischen Politiker hatten keine Zweifel, dass eine solche Zukunft den ureigensten Interessen Deutschlands entsprechen und einen adäquaten politischen Niederschlag finden würde.
Nur die persönliche Beziehung zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Boris Jelzin - die berühmte »Saunafreundschaft« - hat in erster Zeit darüber hinwegtäuschen können, dass die gemeinsame Strategie des Westens - Deutschland eingeschlossen - entgegen allen verbalen Beteuerungen weiterhin im Kalten Krieg wurzelte. Diese Position läuft dabei - wie Wolfgang Seiffert in seinem neuesten Buch über Wladimir Putin schreibt - auf zweierlei hinaus: »Umwandlung Russlands in Marktwirtschaft und Demokratie nach westlichem Vorbild einerseits und Einbindung, Isolation und Schwächung Russlands als Weltmacht andererseits«. Während die (selbstverständlich: gleichberechtigte und gleichgestellte) Einbindung in größere internationale Zusammenhänge auch von den Russen selbst angestrebt wird, ruft der auf Schwächung gerichtete Isolierungskurs des Westens immer schärfere Ablehnung hervor.
Trotzdem wird dieser Kurs hartnäckig fortgesetzt. Zuerst kam die NATO-Osterweiterung, mit ihren drei Aussätzigen, die niemals in diese Allianz aufgenommen werden: Serbien, Weißrussland und Russland. Dann die Intervention der NATO in Jugoslawien, die alle völkerrechtlichen Merkmale einer Aggression aufwies. Später die antirussische Hysterie nie da gewesener Intensität im Zusammenhang mit der Militäraktion in Tschetschenien. Anschließend die erbitterte antirussische und Anti-Putin-Kampagne in den westlichen Medien anlässlich der Katastrophe des Atom-U-Boots »Kursk«. Und heute schreit man sich im Westen heiser, wegen angeblicher Bedrohungen der russischen Pressefreiheit - nur weil ein ausgesprochen unsauberer Geschäftsmann, der sich ausgerechnet auf die Medienbranche spezialisierte, seine Schulden nicht rechtzeitig bezahlen will.
Bei all dem war und ist Deutschland immer an vorderster Front. Bonn hat von Anfang an die NATO-Expansion unterstützt trotz russischer Warnungen und Einwände. Die deutsche Luftwaffe bombardierte jugoslawische Städte, obwohl das den Verpflichtungen Deutschlands aus dem 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit eindeutig zuwider lief. Joschka Fischer war einer der lautstärksten Befürworter von Sanktionen gegen Russland wegen des Krieges in Tschetschenien. Und was in den deutschen Medien im Zusammenhang mit dem Untergang der »Kursk« geschah, widerspricht allen zivilisierten Umgangsformen von Staaten.
Glücklicherweise ist die Hoffnung auf ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Russland und Deutschland noch nicht gänzlich dahin. Wer ein wenig weiter in die Zukunft blickt, sieht, dass die wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen beider Länder objektiv sehr nah beieinander liegen. Ob es gelingt, aus dieser Nähe eine Politik der praktischen Zusammenarbeit entstehen zu lassen, bleibt freilich ungewiss. Die Hauptfrage ist, ob beide Seiten willens und imstande sind, sich wirklich zu verstehen. Wladimir Putins Wahl zum Präsidenten Russlands stellt ein gutes Omen dar.
Der neue Kremlchef ist, wie es sich gehört, entschiedener Verfechter grundlegender nationaler Interessen Russlands, die jedoch keinesfalls mit denen anderer Länder kollidieren müssen. Darüber hinaus aber ist Putin das erste russische Staatsoberhaupt seit Lenin, das Deutsch spricht, Deutschland aus eigener Lebenserfahrung kennt und mit deutscher Denkweise sympathisiert. Der Mann hat eine sehr persönliche, zutiefst positive Einstellung zu Deutschland. Sollte dieser glückliche Umstand für eine entschiedene Gesundung des deutsch-russischen Verhältnisses nicht voll genutzt werden, werden beide Länder wohl lange auf die nächste Gelegenheit warten müssen.
Unser Autor war letzter UdSSR-Botschafter in der DDR.
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