Gerburg Treusch-Dieter

Jubiläumslied zum Mauerfall Wanze

Jubiläen machen froh, ihr Besingen ebenso. Deshalb singen wir jetzt ein Lied zum Bau der Mauer, nein, zum Fall. Wie denn nun? Deshalb singen wir jetzt ein Lied zum Fall der Mauer, nein, zum Bau. Was denn nun? Jubiläen machen froh und ihr Besingen ebenso, doch man muss sich einig sein. Jubilieren an Jubiläen ist nicht zweckfrei. Es hat ein Ziel. Den Frohsinn der Zukunft. Er ist in der Vergangenheit als Sinn ihrer Fron angelegt, denn Geschichte wird, indem sie stirbt. Das Warum, Worüber und Wofür unseres Singens folgt daraus. Darum, weil die Mauer gefallen ist. Darüber, dass sie deshalb erbaut worden ist. Dafür, dass sie in Zukunft nie gewesen sein wird. Ein Nachhinein im Vorhinein. Aus ihm ergibt sich, dass der Mauerfall dem Mauerbau vorausgesetzt ist, dass das Verschwinden der Vergangenheit immer schon die kommende Zukunft war, dass die Trümmer der Geschichte als Ende vom Lied in ihrem Anfang beschlossen sind.

Dann fangen wir doch endlich an mit unserem Lied, was zum Jubiläum des Mauerbaus fürs Hochjubeln seines Niedergangs wie kein anderes geeignet ist: Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt e kleine Wanze. Guck a mol die Wanze an, wie die Wanze tanze kann. Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt e kleine Wanze. Jetzt bleibt Ihnen die Spucke weg? Ja, was haben Sie denn gedacht, dass wir zum Jubiläum des Mauerfalls die Nationalhymne singen? Das wäre welche?

Der Sinn der Fron der Vergangenheit ist der Frohsinn einer Zukunft, die mit den Trümmern der Geschichte aufräumt. Ein für alle Mal. Dafür müssen wir die in unserem Lied verborgene Regel der »abschaffenden Wiederholung« anwenden, die sich desto mehr offenbart, je öfter das Lied gesungen wird. Zweimal, dreimal, und so weiter, fünfmal, sechsmal, und noch mal. Sie werden begeistert sein. Sie werden diese Regel zum Jubiläum des Mauerbaus bejubeln. Denn so, wie von diesem Mauerbau kein Stein auf dem andern blieb, so lässt diese Regel keinen Buchstaben hinter dem anderen. Sie fängt beim Letzten an und hört beim Ersten auf. Jeder wird sukzessive weggeputzt und ausgelöscht. Exterminiert. Weil es dieser Regel um das Letzte geht, was als Erstes verrottet ist. Guck e mol die »Wanze« an, guck e mol ihr »Tanze« an, das ist doch eine Sauerei. Wanzen in der Mauer ja, Wanzen auf der Mauer nein. Schmutz ist das, was da auftritt, wo es nicht hingehört. Wir lassen uns durch dieses Ungeziefer, das aus den Trümmern der Geschichte kriecht, doch nicht verscheißern.

Deshalb singen wir das Lied noch mal. Dabei wenden wir auf dieses Ungeziefer und jedes wiederkehrende Verdrängte unsere Regel der »abschaffenden Wiederholung« an. Lauthals singend, wird es Laut um Laut getilgt, indem an seine Stelle, pro Vokal und Konsonant, sukzessiv und reduktiv, eine Pause nach der anderen tritt, zweimal, dreimal und so weiter und noch mal. Jedem also, der etwas auf den Lippen hat, was nicht mehr spruchreif ist, jedem, dem etwas auf der Zunge liegt, was noch nicht gegessen ist, jedem, dem ein Kloß im Halse steckt, jedem, dem sich der Magen umdreht, sei in aller Deutlichkeit geraten, bevor wir noch mal singen, dass er jetzt alles ausspricht oder runterwürgt, aufrülpst oder erbricht. Denn von unserem Lied aus deutschem Liedgut steht außer Frage, wer einen seiner zunehmend verbotenen Laute singt, der hat »gesungen«. Der hat sich verraten. Der hat ausgesungen. Der scheidet aus.

Böse Menschen haben keine Lieder, aber wir. Deshalb jubilieren wir unser Lied zum Jubiläum gleich noch mal im Gleichklang eines Frohsinns, dessen Sinn der Fron ohne Missklang ist, ohne Zwist. Einigkeit hat keinen Teil an Teilung. Und die Mauer war, spaltend, selbst ne Spalte, mit ner Seite rechts und ner Seite links, in der Mitte nichts. Lücke, die zu unserem Glücke von der Zukunft ohne Vergangenheit beseitigt ist. Und sollten da noch Spuren der Löschung von irgendwelchen Spuren sein, dann setzen wir noch mal und immer wieder die Regel der »abschaffenden Wiederholung« ein. Auf geht´ s, los! Weg mit dem Insekt. Guck e mol die »Wanz«, die nur noch »tanz«. Guck e mol die »Wan«, die nur noch »tan«. Und jetzt die »Wa«, die nur noch »ta«. Und jetzt die »W«, die nur noch »t«. Do gucktse. Und jetzt der Schluss, ohne Mucks. Nur noch Pause, Pause, immer wieder und noch mal. Ihr Atem stockt? Sie haben den letzten Laut verschluckt? Am Ende vom Lied ist peinliche Stille eingetreten? Dann haben Sie mit ihrer stimmlosen Übereinstimmung den Frohsinn dieses Lieds zum Jubiläum des Mauerbaus erfüllt.

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