Geringe Empathie

Muslimhass Das Gedankengut des Terroristen von Christchurch ist auch in Deutschland verbreitet. Wir müssen uns mit dem ideologischen Nährboden dieses Hasses auseinandersetzen
Ausgabe 12/2019
Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern umarmt die Besucherin einer Moschee, zwei Tage nach den Anschlägen
Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern umarmt die Besucherin einer Moschee, zwei Tage nach den Anschlägen

Foto: Hagen Hopkins/Getty Images

Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern hat aus Solidarität mit den Hinterbliebenen ein Kopftuch angelegt, mit den Familien und Angehörigen der Opfer mitgefühlt und Empathie gezeigt. Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass eine solche Geste hier undenkbar wäre. Die Geste würde als Symbol der Unterwerfung ausgelegt werden.

95 Prozent der deutschen Bevölkerung haben nach 20 Jahren Islamdebatte die These von der existenziellen Bedrohung durch fünf Prozent muslimische Mitbürger verinnerlicht. Die Vorstellung, dass jeder Muslim qua Bekenntnis ein Gefahrenpotenzial sei, haben wir als Gewissheit in die Mitte unserer Gesellschaft dringen lassen. Das Gedankengut des Terroristen von Christchurch ist auch bei uns verbreitet. Niemand kann so tun, als ob uns dieser Vorfall nichts angeht, als ob es sich nur um ein tragisches Ereignis auf der anderen Seite der Welt handelt. Ganz im Gegenteil, wir müssen uns mit dem ideologischen Nährboden dieses Hasses intensiv auseinandersetzen. Zu so einer Auseinandersetzung gehört es, das Problem unmissverständlich beim Namen zu nennen: Der Täter handelte aus Muslimhass.

Innenminister Seehofer, der verantwortlich für die Islamkonferenz ist, gab der Bild-Zeitung zu Protokoll, dass es in Deutschland kein islamfeindliches Klima gäbe. Wahnsinn! Wie kann man als Innenminister vor der Realität derart die Augen verschließen? Neurechte, Identitäre, manche vermeintlichen „Islamexperten“, sich liberal gebende Pseudo-Aufklärer, eigene Parteikollegen und vor allem die AfD festigen seit Jahren das islamfeindliche Narrativ. Da hilft es auch nicht, wenn Seehofer sagt, dass der Rechtsstaat mit aller Härte islamfeindlichen Straftaten entgegentrete. Diese Aussage ist nichtssagend. Natürlich tritt der Rechtsstaat antisemitischen, islamfeindlichen und anders motivierten Straftaten entgegen. Das brauchte ein Politiker nicht zu betonen.

Terroristen werden nicht als Terroristen geboren. Vor dem Terrorakt findet eine gedankliche Radikalisierung statt, der Schritt von der Ideologie zur Tat ist nicht zwingend, aber wenn er erfolgt, ist er doch nur ihre Steigerung. Die Ideologeme, auf die sich der Terrorist von Christchurch in seinem Manifest beruft, gären seit Jahren auch bei uns.

Wenn Seehofer sagt: „Muslime sind ein Teil Deutschlands“, bedeutet das auch, dass er als verantwortungsbewusster Politiker die Gefühle und Ängste der deutschen Muslime ernst nimmt, sie nicht überhört oder sogar relativiert. Daraus ergibt sich eine Bringschuld, die er gegenüber den muslimischen Bürgern hat. Als selbstbewusste Bürger, die sich über ihre Pflichten und Rechten bewusst sind, fordern insbesondere junge deutsche Muslime dies auch ein! Die relativ geringe öffentliche Anteilnahme am Schicksal der Muslime in Christchurch und das überschaubare Verständnis für die Ängste der Muslime hier in Deutschland haben auch diesen Grund: Unterschwellig herrscht das Gefühl, die Muslime hätten jetzt mal die Gewalt erlebt, die ihre Religion ihnen angeblich vorschreibt. Dieser Zustand der emotionalen Distanz zeigt ganz deutlich: Christchurch kann jederzeit auch in Deutschland passieren – und unsere Islamdebatte feuert solche Taten an.

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