Geschichte als Antwort auf die "griechische Frage"

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Das Wort Anarchie, Zustand der Gesetzlosigkeit, politische Unordnung, ist hergeleitet aus dem griechischen "anarchia". Wie die meisten Termini der politischen Theorie (Demokratie, Dialog, Kritik) scheinen diese Begriffe im heutigen Griechenland ihren Gehalt eingebüßt zu haben.

Die Ursprünge der anarchistischen Bewegung in Griechenland gehen ins 19. Jahrhundert zurück. Doch erst 100 Jahre später formierten sich die ersten dieser Gruppierungen als Randerscheinung einer anfangs spontanen, danach durch die linken Parteien indoktrinierten Studentenbewegung, die während der Militärjunta (1967-1974) entstand.

Als Hochburg der Bewegung gilt seither der Athener Stadtteil Exarcheia, direkt hinter der Technischen Hochschule gelegen. Ein Quartier, das Ähnlichkeiten zu Berlin-Kreuzberg, Hamburgs Hafenstraße oder London-Brixton aufweist, jedoch einen stark "nationalen Charakter" hat, also kein multiethnischer Stadtteil ist. Seit Mitte der achtziger Jahre wurde Exarcheia zur "bullenfreien Zone" erklärt.

"Konsens" ist politisch hier ebenso ein Fremdwort wie das (griechische) Wort "Dialog". Weder Polizei noch Regierung sind an einem Überblick der komplexen sozialen Verhältnisse interessiert. Hier treffen gebürtige Athener, die "Szene", aber auch Straßenverkäufer aus der Dritten Welt und Drogenhändler nicht immer friedlich zusammen. Die Klischees vom "Anarcho-Viertel" oder "polizeilichen Abaton" (Unbetretbares) gehören zur Sprache der sensationsgierigen Privatsender, die Straßenschlachten oft direkt übertragen. Doch keine Regierung, ob Mitte-Rechts oder Mitte-Links, hat je den Versuch unternommen, durch Jugend- und Sozialprojekte zu den rebellierenden Exarcheia-Jugendlichen Brücken zu schlagen. Man setzt eher auf "gemässigte Repression".

Der starke Politisierungsdrang der griechischen Jugend nach 1974 berief sich auf die Tradition der linken, vorwiegend kommunistischen Bewegung (KPG, Eurokommunisten). Von Anarchisten und "Chaoten" war da keine Rede. Erst ab den neunziger Jahren, vor allem während der Vorherrschaft der unfähigen und reformunwilligen griechischen Sozialisten (PASOK), formierte sich ein buntes Spektrum von Gruppen, die nationale mit internationalen Zielen zu verbinden versuchte, etwa während der EU-Gipfelkonferenz in Thessaloniki (2003).

Wer der Meinung ist, mit Klischees wie "jugendliche Protestbewegung", "anarchistische Gewalttäter" oder "randalierende Jugendliche" die komplexe Sachlage in Griechenland genügend erklären zu können, liegt falsch. Für die neugriechische Gesellschaft, die in den letzten 20 Jahren einen tiefgreifenden sozialen Wandel durchgemacht hat, sind die aktuellen Phänomene nicht mit den Ausschreitungen in den Pariser Vororten zu vergleichen.

Griechenland ist nach wie vor auf einem europäischen Sonderweg. Die "neugriechische Familie" ist immer noch wichtiges Fundament des Alltagslebens, die Jugendarbeitslosigkeit betrifft kaum die Jugendlichen aus den städtischen Mittelschichten, die sich jetzt an den Ausschreitungen beteiligen. Der öffentliche Dienst ist wie gehabt der wichtigste "Arbeitgeber", während die Universitäten bei Studien schlecht abschneiden. In den Vororten leben keine marginalisierten einheimischen oder migrantischen Gruppen, und die Kaufkraft der Jugendlichen verhilft dank der finanziellen Familienunterstützung zu einem, wenn auch labilen Wohlstand.

So zeugt die aktuell gespannte Lage in Athen von einem völlig berechtigten Unbehagen der Jugendlichen in Griechenland, die intuitiv und spontan und eigentlich nicht blind gegen die Gesellschaft, sondern gegen diejenige Vätergeneration den Aufstand probt, die trotz linker Maximalismen und Lippenbekenntnisse, verantwortlich für die Sackgasse ist, in die der eigene Nachwuchs geraten ist.

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