Geschichte einer Lüge

ANTISEMITISCHE FIKTION Die Protokolle der Weisen von Zion

Das Gespenst des Kommunismus ist erledigt, das Gespenst einer jüdischen Weltverschwörung aber spukt noch immer in den Köpfen. Und es sind nicht nur hartgesottene Antisemiten, die daran glauben; evident ist das internationale Zusammenspiel der Juden auch denen, die sich selbst von Vorurteilen ihnen gegenüber frei glauben. Hinter der amerikanischen Außenpolitik etwa die Interessen der jüdischen Lobby oder die Fäden der internationalen Finanzmärkte in den Händen der Juden zu vermuten, besagt in der Quintessenz nichts anderes als das, wovon die Antisemiten spätestens seit dem Erscheinen von Die Protokolle der Weisen von Zion überzeugt waren: Das Judentum ist angetreten, die Welt politisch und ökonomisch zu beherrschen.

Bei den 1903 erstmals erschienenen Protokollen handelte es sich angeblich um die Mitschrift von 24 Sitzungen eines Kongresses von Repräsentanten der "zwölf Stämme Israels", auf dem unter der Leitung eines Oberrabbiners die Eroberung der Welt ausgeheckt worden sei. Dieser Kongress hat nie stattgefunden, und schon bald sollte ans Licht kommen, dass es sich bei den Protokollen sehr wahrscheinlich um eine Fälschung der Geheimpolizei des zaristischen Russlands handelt, was jedoch die rasante internationale Karriere des Textes nicht aufhalten konnte. 1920 erschienen die Protokolle erstmals in Deutschland unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion. Herausgegeben hatte sie unter falscher Jahresangabe (1919) Ludwig Müller v. Hausen unter dem Pseudo nym "Gottfried zur Beck". Diese Schwindel- und Schmähschrift bot Hitler, aber auch arabischen Führern bis hin zu heutigen Antisemiten, ausreichend Stoff für ihre Hasstiraden.

Dass der moderne Antisemitismus nicht einfach antijüdisches Ressentiment, sondern wesentlich der Kampf gegen die Moderne und die mit ihr innigst zusammenhängende liberale westliche Zivilisation war, lasse sich detailliert an den Protokollen zeigen, weshalb diese denn auch geradezu als der Schlüsseltext des modernen Antisemitismus anzusehen seien. Das ist die Quintessenz des jüngst ins Deutsche übersetzten Buches Ein Gerücht über die Juden. Die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ und der alltägliche Antisemitismus des amerikanischen Politologen Stephen Eric Bronner. Der Geschichte der Entstehung, Verbreitung und Wirkung der Protokolle stellt Bronner einen historischen Abriss über die Judenfeindschaft von ihren Anfängen bis zur Moderne voran, um nachzuweisen, dass die Protokolle "das historische Erbe des Antisemitismus bündeln und dessen Verwandlung aus einem religiösen und sozialen in ein neues politisches Phänomen widerspiegeln".

Leider spiegelt dieser Abriss aber einen historischen Dilettantismus wider, wie er eben bei der Quellenignoranz - mit Ausnahme der Protokolle und den an einer Hand abzuzählenden Originalquellen stützt sich der Verfasser ausschließlich auf Sekundär- und Tertiärtexte - nicht ausbleibt. Dieser Part bringt nicht nur nichts Neues ans Licht; die Rekonstruktion weist zu große Lücken auf, als dass sich mit ihr die These von der Bündelung des historischen Erbes des Antisemitismus in den Protokollen belegen ließe. Wie man an den theologischen Traditionen gänzlich vorbei die "Verwandlung" der religiösen Judenfeindschaft in ihre modernen Gestaltungen ersehen will, ist schleierhaft. Dass hier die Legende über Wilhelm Marr als dem Schöpfer des Begriffs Antisemitismus wiederholt wird, geht ebenso auf das Konto der Quellenignoranz wie die Behauptung, für die Bronner selbst bürgt: "1815 entwarf der extreme Flügel des jungen deutschen Nationalismus ein Programm der ›Rassenreinheit‹", womit "die judenfeindliche Ideologie einen neuen Ausdruck gefunden" habe. Belege für diese brisante Behauptung bringt Bronner jedoch nicht. Mit ihnen nämlich müsste am Ende das Bild über die Geschichte des Antisemitismus im 19. Jahrhundert korrigiert werden.

Bronners Buch ist zwar für ein breiteres Publikum geschrieben, doch auch dieses hat ein Recht auf solide Arbeit. Die leistet Bronner in dem Teil über Entstehung, Verbreitung und Wirkung der Protokolle. Eine endgültige Lösung des Urheberschaft-Rätsels darf hier allerdings nicht erwartet werden. Bronner bemüht die, zuletzt überwiegend von amerikanischen Forschern um neue Details ergänzte Probabilitätshistorie hierzu, was für Leser, die mit dieser Geschichte wenig oder gar nicht vertraut sind, einen ausgezeichneten Überblick bietet. Dass die "Protokolle" auch heute noch in antijüdischen und antizionistischen Kreisen in Europa, Amerika und der arabischen Welt für bare Münze genommen werden, weist Bronner deutlich nach. Dieser letzte Teil hat das große Verdienst, das Bedrohungspotenzial von antijüdischen Machwerken für die liberalen westlichen Gesellschaften realitätsgerecht in den Blick zu nehmen und damit der Hysterie die Spitze zu brechen. Auch wenn sich die Ewiggestrigen der modernsten Medien (Internet) für die Verbreitung ihrer antijüdischen Hasstiraden zu bedienen wissen, so spielen sie dennoch eine nur marginale Rolle, zumindest in den westlichen Demokratien. Eine Gefahr jedoch droht den liberalen Gesellschaften von der Publikation der Protokolle nicht. Völlig zu Recht spricht sich Bronner denn auch gegen die immer wieder geforderte Notwendigkeit einer Zensur aus. Es mag dem einen oder anderen zu vertrauensselig erscheinen, wenn Bronner ganz auf den "liberalen Verstand" der westlichen Gesellschaften setzt; die Geschichte aber gibt ihm Recht: Mit dem Antisemitismus ist heute kein Staat mehr zu machen, wiewohl das über die Anfälligkeit einzelner für antijüdische Stereotypen gar nichts besagt.

Stephen Eric Bronner. Ein Gerücht über die Juden. Die "Protokolle der Weisen von Zion" und der alltägliche Antisemitismus. Aus dem Amerikanischen von Klaus Dieter Schmidt und Hans-Ulrich Seebohm. Propyläen, Berlin 1999, 239 S., DM 38,-

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