Geschichte einer Schlachtung

Lakonisch Christoph Marthaler inszeniert Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" an der Berliner Volksbühne mit inzwischen routinierter Langsamkeit

"Komödie ist Tragödie plus Zeit", lautet eine Weisheit Woody Allens, dessen Filme durch Entschleunigung die Gattungsgrenzen sprengen und Tragischem Leichtigkeit und scheinbar Leichtem abgründige Tiefe verleihen. Allens Bruder im Geiste ist der Theaterregisseur Christoph Marthaler. Auch dessen Arbeiten haben eine eigene Zeitlichkeit, die sie zu einer Art Lupe der Langsamkeit machen, unter der eine befremdliche Wahrheit sichtbar wird.

Doch auch Entschleunigung ist ein Zeitmaß, das einen Rhythmus braucht. Wenn der fehlt, führt Langsamkeit zur Überlänge. So geschehen bei Marthalers neuester Inszenierung, die letzte Woche in der Berliner Volksbühne Premiere hatte. Das überrascht doppelt, denn mit Ödön von Horváth stand ein Autor auf dem Programm, dessen "Volksstücke" selbst die Gattungsgrenzen sprengen. Aber was vor zehn Jahren mit Kasimir und Karoline zum Glücksfall des Theaters wurde, geht nun mit den Geschichten aus dem Wiener Wald zwar nicht völlig schief, aber auch nicht restlos auf.

Ein Grund dafür ist vor Beginn auf dem Tor zu lesen, das die Bühne versperrt: Rechts lädt ein Schild auf einen "lustigen Bauernhof" zu "Unterhaltungsspielen und Getränken". Das Dementi steht gleich daneben: "Ab 1.9.05 bleibt die Gaststätte geschlossen", teilt links eine Kreide-Handschrift mit. Wie die Zeit, ist auch der Ort der Handlung aus den Fugen. Hinter dem Tor ragt ein (Ost-)Berliner Plattenbau auf, in dessen Fenstern für ein (West-)Berliner Bier geworben wird. Darüber prangt die Reklame einer österreichischen Zigarettenmarke.

Wenn sich das Tor öffnet, hält die Verwirrung an, weil auf der Bühne von Anna Viebrock Innen und Außen nahtlos ineinander übergehen: Links schließt sich an eine Kinokasse das Geschäft des Zauberkönigs an, rechts stehen einige Biertische, und im Hintergrund befindet sich ein Lokal, in dem auch Valeries Tabakladen Platz hat. An eine Schlachterei erinnert hier hingegen nichts, und damit auch nichts an die Welt Oskars, der Marianne heiraten will, die Tochter des Zauberkönigs, der seinen Namen dem Handel mit Scherzartikeln verdankt. Das zynische Gewerbe des Vaters und das blutige des Verlobten beschreiben die beiden Mühlsteine, zwischen denen Marianne zerrieben wird. Und dass sie sich am Tag ihrer Verlobung in die Arme des Kleinganoven Alfred flüchtet, verlangsamt den Tod auf Raten nur.

Doch wie das Datum auf dem Tor vermeldet, liegt all das ein gutes Jahr zurück, und inzwischen sind auch die Mühlsteine stumpf: Nicht einmal sein Messer hat Oskar (Ueli Jäggi) in die Jetztzeit retten können, und von der Bedrohlichkeit des Zauberkönigs (Josef Ostendorf) ist nur ein Papp-Skelett im Schaufenster geblieben. Noch ärger hat es Alfred (Stefan Kurt) erwischt, der in einem grauen Anzug steckt und mit dem Verruchten den einzigen Reiz eingebüßt hat. Mariannes Ausruf "Jetzt bricht der Sklave seine Fesseln", mit dem sie die Verlobung platzen lässt, geht Bettina Stucky entsprechend beiläufig, dafür auf Sächsisch über die Lippen, zwischen die sie zum Zeichen ihrer neuen Freiheit eine Zigarette steckt.

Die Ersetzung von Emotionen durch Lakonie ist für Marthalers Arbeiten so typisch wie die das reduzierte Tempo - doch an diesem Abend geht beidem das Maß verloren: Die Verlobung gerät so ausufernd wie die Donau, an deren Ufer die Feier stattfindet. Und dass das Stück zur Zeit der letzten Weltwirtschaftskrise entstand, dient für Anspielungen auf aktuelle Krisenpotenziale wie Selbstmordattentäter und das Prekariat. Nicht alle dieser Zusätze lassen sich mit dem Stück begründen, und jeder widerspricht dem Vorhaben, Mariannes "Schlachtung" aus der Rückschau zu erzählen. So wird statt der Wahrheit der Vorgang selbst befremdlich, wenn die Dauererektion des rechten Armes Erich (Marc Hosemann) zur Karikatur eines (Neo-)Nazis macht und als Kommentar auf den Lebenswillen Valeries (Katja Kolm) im Kino Die lustige Witwe läuft. Unselig ist auch der Mix aus Schrammelmusik, Wiener Walzer und populären Schlagern, die Clemens Sienknecht im quälenden Falsett vorträgt.

Zu Lakonie und Rhythmus findet der Abend erst in der letzten Szene, die Mariannes Weg aufs seelische Schafott beschließt. "Dann komm", sind Oskars Worte, mit denen sich seine Prophezeiung erfüllt, sie würde seiner Liebe nicht entgehen. Und dass er schließlich Recht behalten sollte, scheint selbst die Marienfigur zu beschämen, die seit vier Stunden über der Szene schwebt.


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