Vor einer Woche gab es endlich mal Gutes, ja fast Fröhliches zu berichten. Die Einigung im Streit bei Daimler-Chrysler, die Kostensenkung von 500 Millionen Euro auf Kosten der Arbeitnehmer, entzückte die CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl: "Das ist ein guter Tag für den Standort Deutschland", gab sie zu Protokoll. Wir verstehen Frau Wöhrl. Sie ist nicht nur Abgeordnete, sie ist mit einem Millionär verheiratet und nebenbei noch Geschäftsführerin mehrerer Firmen. Doch die Begeisterung beschränkte sich nicht nur auf diese Dame, nahezu alle Repräsentanten der "parlamentarischen Vernunft" zeigten sich begeistert.
Die Welt ist scheinbar undurchdringlich. Aber ein par Dinge weiß man schon. Und dazu gehört mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass der Mercedes-Deal kein Glücksfall für den Standort Deutschland ist, sondern bestenfalls Teil einer Katastrophe, die zur Routine wird. Man muss nicht studiert und nicht mal sozialistische Flausen im Kopf haben, um zu kapieren, dass diese Art von Kostensenkung bei gleichzeitiger Schwächung der Nachfrageseite zu nichts anderem führen kann als zu weiterer Überproduktion mit der Folge eines weiter geschwächten Binnenmarktes und weiterer Arbeitslosigkeit.
Trotzdem feiern sie alle - von der ARD bis zum lokalen Frühstücksblatt - die neue Flexibilisierung bei Tariffragen und Arbeitszeit. Bei so viel Applaus gegen jede Plausibilität muss man schon sehr tapfer sein, um nicht an ein Komplott von Medien, Wirtschaft und Politik zu glauben. Man könnte aber auch zu dem Schluss kommen, hier handle es sich um einen Fall von systemischem Irrsinn - ein gefährlicher Gedanke. Und so beklagte - mit seltener Erregung - Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass die Sindelfinger Daimler-Agenda überhaupt zu einem öffentlichen Thema wurde. Dergleichen löse man im Stillen, verordnete er allen Beteiligten. Wahrscheinlich hatte der Kanzler die berechtigte Angst, solche Arbeitskonflikte könnten, besonders wenn sie eskalieren, dazu führen, dass die Öffentlichkeit über den volkswirtschaftlichen Unsinn solcher Politik nachzudenken beginnt. Während Schröder sich doch gerade den Luther-Kragen umgetan hatte, um zu bekunden, dass er zwanghaft so denken und handeln müsse, wie er handle. Und da können wir ihn verstehen - ergriffe ihn der leiseste Hauch eines Zweifels über seine Sorte von Wirtschaftspolitik, dann bliebe ihm nur zu denken, was zu denken ihm und seinesgleichen nicht gegeben ist: Können wir uns diese Wirtschaft noch leisten?
Bleibt die Frage: warum nutzen die Medien eigentlich nicht die Gunst der Stunde? Da der parlamentarische Raum mit der Geschlossenheit eines Zentralkomitees auftritt, könnten doch wenigstens ein paar verantwortungsbewusste Journalisten darauf hinweisen, dass weder die Zustandsbeschreibung dieses Landes, noch die Diagnose und schon gar nicht die Therapie im Geringsten stimmen. So zu fragen, hieße aber nicht zu verstehen, wie Medien funktionieren. Journalisten trauen ihrer Wahrnehmung nicht, beobachten nur selten die Wirklichkeit, sondern schreiben die kunstvoll inszenierte Medienrealität fort. Sie informieren über das, was die Meinungsführer öffentlich vorkommen lassen wollen, halten auf dem laufenden über das Personal der Wirklichkeitsverwaltung und ihr gerade angesagtes Problemdesign. Medienprofis gleichen pausenlos ihre Medienfassung der Welt untereinander ab. So entsteht Medienrealität. Deshalb unterscheiden sich unsere angeblich heftig miteinander konkurrierenden Zeitungen und Sender allenfalls in der Präsentation der nämlichen Botschaften. Und so entsteht letzten Endes das Delirium der politischen Klasse.
Auch wenn es nicht ganz leicht fällt, muss man daran erinnern, dass auch Journalisten Menschen sind - wie wir alle. Und wie wir alle haben auch sie gehörig den Überblick verloren. Täglich lernen wir aufs Neue, dass es nicht darauf ankommt, individuelle Schlüsse aus der Realität zu ziehen, auf die eigene Wahrnehmung zu vertrauen oder vielleicht noch einer "inneren Stimme" zu folgen. Die tägliche Herausforderung einer hyperkomplexen Realität besteht darin, den Anschluss zu halten: Dabei sein ist alles. So gesehen ähnelt der Appell an den kritischen Abstand der Gratisrhetorik hochdekorierter Humanisten. Und so gesehen haben sich Politik, Medien und Wirtschaftsverbände in eine kollektive Verblendung begeben, die ihnen kaum noch erlaubt, das Leben im Lande wahrzunehmen. So etwas pflegt man Wahn zu nennen.
Der Wahn hat andererseits auch ganz handgreifliche Ursachen. Medien sind entweder Wirtschaftsbetriebe, die sich ihrer wichtigsten Kunden versichern, oder öffentlich-rechtliche Anstalten, deren Führungspersonal politischen Vorgaben zu erfüllen weiß. Man braucht nur zu sehen, zu welchen politischen Flexibilisierungen der Spiegel durch den Einbruch des Anzeigenmarktes fähig war. In der FAZ konnte man vor drei Jahren noch die indische Schriftstellerin Arundhati Roy lesen. Seit dem Rückgang des Anzeigengeschäftes haben nun viele Journalisten sozusagen am eigenen Leib erfahren und verstanden, dass es "der" Wirtschaft gut gehen muss, damit es eine "freie" Presse geben kann. Im Übrigen sind die meisten Organe verblüffend straff hierarchisch organisiert. Im Spiegel erscheint selten eine Zeile, die nicht vom Chefredakteur Stefan Aust genehmigt ist. So vertrocknen die letzten Reste der Freiheit des Journalisten in der Dürre des Alltags. Wahrscheinlich erlaubt erst eine Explosion des Realen, eine Sprengung des Rudels, wieder einen frischen Blick auf die Fakten, die Zusammenhänge, auf das wirkliche Leben.
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