"Gesetzgeber ist fauler Sack“

Im Gespräch Der Sozialrichter Jürgen Borchert über Hartz IV, Tricks der Statistik und die Sehnsucht nach Nachkriegsvernunft

Der Freitag: Herr Borchert, im vergangenen Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit 267.000 fehlerhafte Bescheide ausgestellt. Mit der nun geplanten Entflechtung der Jobcenter droht eine Verdoppelung der Klagen. Können die Sozialgerichte diese Flut überhaupt noch bewältigen?

Jürgen Borchert

: Hartz IV hat die Belastung der Sozialgerichte anfangs ins Unerträgliche gesteigert. Das Gesetz war schlecht gemacht, die Verwaltung unerfahren. Die Besserung kommt nur langsam. Eine Verdoppelung wäre wirklich erschreckend.

Eigentlich müssten fünf Jahre nach Einführung von Hartz IV die Anfangsschwierigkeiten langsam abnehmen. Wenn Sie eine vorläufige Bilanz ziehen, was haben die Hartz-Gesetze, insbesondere Hartz IV gebracht?

Das Konzept der Pauschalisierung ist falsch, weil jeder Fall immer ein Einzelfall bleibt. Zweitens war das Versprechen höherer Leistungen als bei der früheren Sozialhilfe glatt gelogen, weil einmalige Leistungen nur zu Bruchteilen im neuen Regelsatz berücksichtigt wurden. Drittens sind die Brücken in den „ersten“ Arbeitsmarkt heute vielleicht breiter, aber dafür ist dieser inzwischen für Millionen qualifizierte Arbeitssuchende das Allerletzte.

Einer der Erfinder der Hartz-Gesetze, Klaus Brandner (SPD), behauptet heute, durch Hartz IV habe man 400.000 Langzeitarbeitslose „aus dem Dunkel herausgebracht“. Könnte man das nicht als Erfolg sehen?

In der Arbeitsmarktstatistik wird seit jeher übel getrickst. Wir wissen nur eins wirklich sicher: Die meisten neuen Arbeitsplätze – etwa 500.000 – sind im Bereich der Leiharbeit entstanden. Durch Hartz I und Hartz IV wurde ein Mechanismus installiert, der erst die Leiharbeit entfesselte und den Verleihern dann die Kräfte in Scharen zutreibt. Von den Hungerlöhnen dort – Stichwort „Schlecker“ – kann keine Familie leben. Arbeit hat so ihre Würde verloren.

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Gerade die Situation von Familien scheint immer prekärer zu werden. Wie könnte man die Sozialsysteme familiengerechter gestalten?

Das Familienproblem resultiert vor allem aus der asozialen Lastenverteilung in unseren Abgabensystemen. Die öffentlichen Hände finanzieren sich zu rund 45 Prozent aus Sozialbeiträgen und zu rund 30 Prozent aus Verbrauchssteuern. Beide Abgabeformen belasten „regressiv“– das heißt, bei den unteren Einkommen wird relativ härter als bei höheren abkassiert. Deutschland ist damit „Weltmeister der Ungerechtigkeit“! Die horrende Staatsverschuldung verschärft das Ganze, denn sie ist im Kern eine Senkung der Einkommensteuer für Wohlhabende, die Zinsen kassieren statt Steuern zu zahlen. Das alles bewirkt nicht nur eine massive Umverteilung von unten nach oben, sondern benachteiligt vor allem Familien strukturell. Ein Durchschnittseinkommen reicht einfach nicht mehr aus, um eine Familie zu finanzieren, deshalb rutschen sie so oft in den Hartz-IV-Bezug ab.

Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky, lehnt allerdings eine Erhöhung der Regelsätze ab: Er hält es für problematisch, wenn Hartz-IV-Familien mit ihrer Kopfzahl ihr Einkommen steuern könnten. Was halten Sie von dieser Kritik?

Der Brennpunkt Neukölln mit seiner Parallelgesellschaft ist ein Sonderfall. Die Sorgen sind deshalb nachvollziehbar und seine Idee, öffentliche Leistungen zum Beispiel vom Kindergarten- oder Schulbesuch abhängig zu machen, ist bedenkenswert.

Wäre eine solche Gegenleistung auch das, was Roland Koch fordert: einen „Arbeitszwang“ für Hartz-IV-Empfänger? Er hat damit eine neue Debatte über die Faulheit der Arbeitslosen losgetreten ...

Nein, das ist etwas völlig anderes. Koch kennt offenbar das Verbot der Zwangsarbeit in Artikel 12 Grundgesetz nicht. Er macht die Opfer zu Tätern und verabschiedet sich von der Sozialen Marktwirtschaft, die immer die vorrangige Verantwortung des Staates für den Arbeitsmarkt betont hat. Das steht seit 1967 sogar im Stabilitätsgesetz und seit 1969 im Arbeitsförderungsgesetz. Die wichtigsten Instrumente zum Schutz des Arbeitsmarkts, nämlich die Geld-, Währungs- und Zinspolitik, hat der Staat aber an die Europäische Zentralbank (EZB) abgegeben. Dafür können doch die Millionen Arbeitslosen nichts!

Was wäre dann also die Aufgabe der Politik?

Zumindest müsste die Politik heute dafür sorgen, dass das schlimmste Konjunkturhindernis, nämlich die Nachfrageschwäche, durch eine radikale Reform unseres widerwärtigen Abgabensystems beseitigt wird. Dass eine Durchschnittsfamilie trotz Arbeit arm ist, ist doch auch wirtschaftspolitisch ein Desaster. Wirtschaftliche Freiheit muss deshalb wieder strikt an soziale Verantwortung gekoppelt werden, wie das zu Beginn der Republik mit der sozialen Marktwirtschaft prima geklappt hat. Wir hatten damals allerdings für Riesenverdienste einen Spitzensteuersatz von 95 Prozent.

Das hört sich an, als wünschten Sie sich die alte Bundesrepublik der sechziger Jahre zurück.

Nein, nur die Nachkriegsvernunft. Sie wusste, dass vor allem eine aberwitzige Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in die Katastrophe geführt hatte. Ebenso wusste man, dass Familien die wahren Leistungsträger der Gesellschaft sind, weil die Zukunft mit der Bildungsfähigkeit des Nachwuchses steht oder fällt. Mit dem irrsin­nigen Abgabensystem werden doch nicht nur Familien in die Armut geknüppelt, sondern werden die Bildungspotenziale der Kinder ruiniert. Die Verfassungswidrigkeit der Abgabensysteme gegenüber den Familien hat das Bundesverfassungsgericht bereits in vielen Entscheidungen dingfest gemacht und den Gesetzgeber aufgefordert, hier entscheidende Korrekturen vorzunehmen. Der Gesetzgeber weigert sich aber nach wie vor, die überfälligen Korrekturen durchzuführen. Deswegen ist er der faule Sack und nicht die Arbeitslosen.

Plädieren Sie für einen Systemwechsel in der Sozialpolitik?

Na klar. Für ein einziges, transparentes System für alle, finanziert aus allen Einkommensarten – ähnlich der Alterssicherung in der Schweiz. Der Sozialstaat steht und fällt mit seiner Transparenz, weil er Verantwortung füreinander beinhaltet. Verantwortung muss man aber „wahrnehmen“ können. Vor dem Teilen kommt immer das Ur-Teilen.


Am 9. Februar wird das Bundesverfassungsgericht über die Hartz-IV-Regelsätze urteilen. Bei der mit großer Spannung erwarteten Entscheidung geht es sowohl um die Eckregelsätze sowie um die Kinderregelsätze. Karlsruhe wird allerdings nicht eine exakte Höhe der Regelsätze festlegen, sondern die Art ihrer Berechnung anmahnen.

Das Gericht hat bereits Zweifel an der Bedarfsermittlung von Kindern ebenso wie von Erwachsenen erkennen lassen. Grundlage dafür ist die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, insbesondere der Verbrauch der untersten 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte.

Bisher hat die Bundesregierung an dieser Stelle willkürliche Abschläge vorgenommen, wie die Sozialrechtlerin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt kritisiert. Offenbar sind bislang die Daten von der Bundesregierung passend gerechnet worden. Lenze hält es für sicher, dass Karlsruhe den Gesetzgeber verpflichten wird, ein gesondertes Verfahren zur Bedarfsfeststellung für Kinder zu entwickeln. Dann wäre es nicht mehr möglich, pauschal festzulegen, dass Kinder einen Bedarf von 60 oder 80 Prozent des Verbrauchs von Erwachsenen haben.

Ein Rolle spielen könnte auch das so genannte Lohnabstandsgebot, das im Sozialrecht verankert ist. Danach sollen Erwerbstätige grundsätzlich besser gestellt sein als nicht Erwerbstätige. Dieses Gebot ist aber nach der massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors kaum mehr einzuhalten, vor allem nicht bei Familien mit zwei oder mehr Kinder. Denn dann überschreiten die Regelsätze für eine Alleinverdiener-Familie den Niedriglohn. Ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht zu dieser wichtigen Frage Stellung nimmt, sagt Sozialrechtlerin Lenze. Denn es gilt, den existenziellen Bedarf der Kinder zu decken.

Die Juristin erinnert in diesem Zusammenhang außerdem an ein Paradox: Im Steuerrecht ist für ein Existenzminimum ein Betreuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern anerkannt, der bei den Hartz-IV-Kindern momentan überhaupt nicht gedeckt wird. Das sind zum Beispiel Kosten für Betreuung, für den Sportverein, den Musikunterricht, die Nachhilfe, elektronische Kommunikation usw., also alle Kosten über Nahrung und Kleidung hinaus, die das soziokulturelle Existenzminimum bestimmen. Wenn der Staat diese kindbedingten Ausgaben im Steuerrecht als existenziell anerkennt, dann muss er diesen Bedarf auch bei den Kindern decken, für die er im Sozialrecht die finanzielle Verantwortung übernommen hat, betont Lenze.

Ein Urteil mit gravierenden sozialpolitischen Folgen und einer unmittelbaren Wirkung für die Betroffenen könnte also kommende Woche in Karlsruhe gesprochen werden. Wenn die Politik in der späteren Umsetzung nicht wieder trickst. Doch wie auch immer das Bundesarbeitsministerium nachbessert, es wird dabei unter öffentlicher Beobachtung stehen.

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