Wer die Zukunft erfinden will, bedient sich (oft) der Vergangenheit. Das Modell zeigt Kopiertechniken im Überblick
Infografik: Roman Tschäppeler, Bearbeitung: Der Freitag
An Weihnachten macht es sich mit besonderer Überzeugungskraft breit, dieses Gefühl. Eine Art Sehnsucht. Die sich aber nicht hoffnungsvoll auf die Zukunft richtet, in der es endlich zur Erfüllung käme, sondern auf die Vergangenheit. Dort hat die Erfüllung schon stattgefunden, unwiederbringlich. Denn in die Vergangenheit kann man ja nicht zurückkehren (während man die Zukunft, so oder so, erreicht). Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Schau heimwärts, Engel.
Dass die retrograde Sehnsucht ganz ohne Hoffnung auf Erfüllung auskommen muss, macht sie nicht versiegen, im Gegenteil, steigert ihre Kraft. Bittersüß nennt man so etwas. Es gibt diesen Whiskylikör aus New Orleans: „Southern Comfort“ – so schmeckt Nostalgie.
Nostalgie. Und die Südstaaten der USA haben das Heimweh (die Sehnsucht nach der schönen Zeit, bevor sie den Bürgerkrieg gegen den Norden verloren) zu einer eigenen Produktivkraft entwickelt. (Ob es die ehemalige DDR als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft dazu auch mal bringt?)Aber wir waren bei Weihnachten. Das vollkommene Fest, leuchtend vor Lichterglanz und Schönheit, gutem Essen und Trinken – und die Geschenke zeigen, wie tief und genau deine Lieben dich verstehen – dieses Weihnachtsfest findet sich grundsätzlich nur in der Vergangenheit, in der Kindheit. Deshalb, können Eltern kleiner Kinder erklären, müssen sie auch dieses Jahr wieder viel Geld und Arbeit auf die Gestaltung des Festes verwenden: Damit es die Kleinen verzaubert und sie diesen Glanz in die Augen kriegen.An dem perfekten Bild der Kinderweihnachten imponiert ein aufschlussreiches Detail: Während drinnen Musik erklingt, der Weihnachtsbaum und die Kerzen golden erstrahlen, fällt draußen still der dichte weiße Schnee. Der Schnee scheint irgendwie zum Träger der Heilsbotschaft geworden zu sein.Was mich betrifft, so weiß ich genau, woher ich diesen eschatologischen Schnee habe. Aus den Animationsfilmen von Walt Disney, in denen sich am Ende alle Knoten lösen und alle Guten zusammenfinden. Der Punsch dampft, das Weihnachtsgebäck und der Braten duften. Dort leuchten in den Häusern die weihnachtlichen Lichter, und draußen rieselt auf jeden Fall leise der Schnee.Zwei meiner Kindheitsweihnachten waren tatsächlich tief verschneit. 1945 und 1946, die ersten nach dem Krieg, charakterisierten außerordentlich harte Winter. Kein Gedanke an duftende Braten und Gebäck. Gutes Heizmaterial wäre damals schön gewesen. Die Disneyfilme lieferten also unzweifelhaft Wunschbilder. So hätte es damals zugehen sollen für das Kind. Es ging aber ganz anders zu in der Nachkriegszeit. The good old days, sagt man im Englischen, they were horrible.Früher war mehr LimoDie Nostalgie, versteht sich, beschränkt ihre Wirkkraft nicht auf Weihnachten, den Winter. Leicht findet jeder in seiner Erinnerung die Sommer von damals wieder, die irgendwie noch richtige Sommer waren. Statt der verregneten oder überhitzten Veranstaltungen, an denen wir jetzt seit Jahren zu leiden haben. Man ging ins Freibad, man lag in der Sonne. Abends feierte man im Garten Partys oder saß nur friedlich herum, ein Glas Limonade in der Hand. Der Sommer bildete eine große, wohlgeordnete Erzählung, die uns einhüllte und trug.Auch hier erkennt man (wie bei Disney) das kulturelle Muster: Es wirkt sich der Mythos von Arkadien aus, die ewig grüne Parklandschaft, in der schöne Menschen anmutig wandeln und lagern, ein immerwährendes Liebesspiel. Die Gelehrten können erzählen, wie Arkadien die heidnische Version unseres Paradieses darstellt, wo Adam und Eva in der Liebe Gottes und in ewiger Unschuld weilen, splitternackt. Oder wie die Sehnsucht des deutschen Bildungsbürgertums nach dem antiken Griechenland entspringt, Hölderlin!Womöglich handelt es sich bei Nostalgie weniger um ein spontanes Gefühl als um ein interpretatorisches Schema, das die Gefühle ordnet und mit Sinn begabt. Gefühle, die sonst persönliche Idiosynkrasien blieben. Früher war alles besser. Früher lebten die Menschen noch nahe an paradiesischen Zuständen – so malt es das Nostalgiegefühl aus.Früher leuchtete sogar in schlechten Zeiten Weihnachten unwiderstehlich. Während es heute doch nur noch um Kommerz und Prestige geht; wer macht wem die aufwändigsten Geschenke. Früher schenkte der Sommer allein durch Sonnenschein und Wärme eine Daseinsbefriedigung, die heute der Urlaub in Phuket oder auf den Malediven bloß noch als schalen Ersatz zu liefern vermag. Dass der Tsunami diese falschen und entfremdeten Paradiese verschlang, der kulturkritische Menschenfeind konnte seine klammheimliche Freude kaum unterdrücken.Vermutlich kommt keine Gegenwartskritik ohne Heimwehgefühl und das entsprechende Interpretationsschema aus, früher war alles besser. Als Willy Brandt Bundeskanzler war. Damals fand noch richtige Politik statt, damals fielen noch weitreichende Entscheidungen. Nicht bloß dieses Durchwursteln. Der mythische Ruhm, der dem steinalten Helmut Schmidt zukommt, von Rollstuhl, Hörgeräten und Zigaretten dramatisch unterstrichen, verdankt sich der Nostalgie. Früher folgte der Kanzler noch weltumfassenden Visionen und riskierte Unpopularität, während heute ...Gleichzeitig erkennt man die unheimliche Flexibilität des Schemas. Denn für unsereinen endete das goldene Zeitalter der Kanzlerschaft Willy Brandts im Rückblick ja haargenau zu dem Zeitpunkt, da Helmut Schmidt das Amt übernahm. Damit begann die bleierne Zeit – aber heute hat sie sich in ein weiteres goldenes Zeitalter verwandelt. Heute herrscht die bleierne Zeit, heute. (Immer herrscht heute die bleierne Zeit.)Hätte bloß Romney gewonnenEin besonders aufschlussreiches und verwickeltes Exempel dieser politischen Nostalgie bietet die letzte amerikanische Präsidentenwahl. Es kam mir so vor, als wünschten sich unsere Kreise, dass Barack Obama die Wahl verlieren möge. Die USA sollte an diesen lächerlichen Mitt Romney fallen, eine Art allamerikanischen Klon. Wie alle komplexen Fantasien zerlegt auch diese sich in viele Teile. Aber einer besteht gewiss aus so etwas wie prospektiver Nostalgie. Die Regierungszeit Obamas, insbesondere sein triumphaler (erster) Wahlsieg, sollte sich für uns stiekum in ein goldenes Zeitalter verwandeln, auf das sich von nun an das politische Heimweh richten könnte. „Als Barack Obama US-Präsident war…“Ein anderes Element der Fantasie „Obama verliert die Präsidentenwahl“ gehört zur Verfallsgeschichte der Vereinigten Staaten. Amerikas Macht, sein Einfluss in der Welt schwindet unaufhaltsam. In den USA selbst ist der phantasmatische Verfall des Landes ein Gegenstand eigener Studien, man spricht ironisch von „declinism“. Manche Propheten erkannten die Zeichen schon, bevor sich die USA überhaupt gebildet hatten. Auch diese Untergangsprophetie gehört wohl in die breite und fruchtbare Tradition der Apokalyptik, der Gerhard Henschel 2010 eine umfangreiche Untersuchung gewidmet hat: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes.Aber das macht keinen Spaß, nicht wahr, wenn man bei den bittersüßen Heimwehgefühlen, die Weihnachten auslöst, startet – und beim Weltuntergang landet. Können wir nicht noch einmal von vorn anfangen? In Bamberg?Vor Jahren verbrachte ich dort meine Zeit in einem Künstlerhaus. Gerade tobte ein Kulturkampf, der die Einheimischen heftig engagierte und die Besucher deutlich befremdete. Einen der hübschen Hügel in der Stadtlandschaft, von Apfelbäumen bestanden, wollte der Magistrat in einen Weinberg verwandeln – als dieser hatte der Hügel schon vor Zeiten gedient. Der Magistrat schien also der Nostalgie nachzugeben; wieder wäre ein historisches Stück der hübschen alten Stadt restauriert, die sich ohnedies so erfolgreich als historisches Schaustück inszeniert, Kopfsteinpflaster statt Asphalt.Die Bürger liefen Sturm gegen die Rekultivierungspläne. Sie verteidigten auf das heftigste die Obstwiesen – die sie zuvor keineswegs als kollektiven Pleasure Ground genutzt hatten, kein Arkadien. Denn das Gelände war eingezäunt und für den Verkehr gesperrt. Doch für die empörten Bürger verwandelten die Magistratspläne das Gelände ad hoc in ein Zeugnis der goldenen, ewig währenden Vergangenheit, an dem sich sofort das Heimweh entzündete, das zur grimmigen Verteidigung des Einst aufrief.So eignet der Nostalgie eine erhebliche politische Kraft. Besonders dramatisch äußerte sie sich, wenn ich richtig sehe, zuletzt in den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21. Die Abriss- und Umbaupläne verwandelten den Bau von Paul Bonatz, für den Fremden ein Vexierbild aus altteutonischer Festungsfantasie und Bauhaus-Moderne, in ein heiliges Zentrum der Stuttgarter Identität, das die Nostalgie wütend feierte und die Bürger beinahe in Kriegsstimmung versetzte. Der Zeitungsleser, Fernsehzuschauer weiter weg sah es mit Befremden. Gibt es wirklich keine Zukunft mehr? Gilt alle politische Aufmerksamkeit nur noch der Vergangenheit? Als kollektiver Aufbauwille Deutschland beherrschte? Als der rheinische Kapitalismus ein Minimum an Gerechtigkeit erwirkte, während heute die Heuschrecken freies Feld haben? Vielleicht beginnt eine schönere Zukunft damit, dass wir diese Verhimmelung der Vergangenheit, in die kein Weg zurückführt, einfach komisch finden.
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