Gestorben wird woanders

USA Die Supermacht gewinnt fast immer, auch in Afghanistan hat sie ihr wichtigstes Ziel erreicht
Ausgabe 35/2021
Joe Biden gedenkt der jüngst in Afghanistan getöteten US-Soldat*innen
Joe Biden gedenkt der jüngst in Afghanistan getöteten US-Soldat*innen

Foto: Zuma Wire/Imago

Es war ein Krieg mit enthusiastischer Zustimmung in den USA zu Beginn und mit wenig Unterstützung am Schluss. Doch sind die geläufigen Thesen von schwerem Schaden für die US-Macht durch das Scheitern in Afghanistan mit Vorsicht zu genießen. Es ist komplexer. Imperien vergehen irgendwann einmal. Doch eine dominierende Nation wie die Vereinigten Staaten beansprucht das Privileg, sich Fehleinschätzungen leisten zu können. Die verspätete Vorbereitung auf die Evakuierung ist schwer zu verstehen. Der Abzug selber war nach fast 20 Jahren Krieg und dem Einsatz von 800.000 US-Soldaten kein Fehler. Friedensgruppen verlangen ihn doch schon seit Jahren.

US-Fortschrittsillusionen von erstarkenden afghanischen Streitkräften sind hinreichend dokumentiert. Sicherheitspolitisch gilt jedoch ebenso, dass der von George W. Bush ausgerufene weltweite Krieg gegen den Terrorismus vom America-First-Standpunkt her ein großes Ziel erreicht hat: Seit dem Zusammenbrechen des World Trade Center am 11. September 2001 hat es niemand mehr geschafft, das Heimatland anzugreifen. Gestorben wird woanders.

Die professionellen Streitkräfte, die besten und am besten ausgerüsteten weltweit, wie US-Politiker sagen, kämpfen weit entfernt vom Alltag der allermeisten US-Amerikaner. Am Flughafen in Kabul sind die mutmaßlich letzten gestorben, elf Männer, zwei Frauen. Manche zu jung, um legal ein Bier zu kaufen. In Zeitungen der Wohnorte ihrer Eltern ist zu lesen von Söhnen und Töchtern, die gern beim Militär waren. Rylee McCollum aus Bondurant, weit draußen auf dem Land im Wyoming, war ein „tougher, liebevoller Junge“, wird seine Schwester in der Zeitung Casper Star Tribune zitiert. Deagan Page aus Nebraska habe den „Bruderbund“ der Marineinfanteristen geliebt, teilt seine Familie mit. Marineinfanteristin Nicole Gee postete Tage vor ihrem Tod ein Foto von sich in Kabul mit einem Baby. Kareem Nikoui schickte seiner Mutter Shana Chappell ein Bild von sich am Flughafen vor einer Barriere und Stacheldraht. Chappell hat dieses letzte Foto von ihrem Sohn auf Instagram gepostet. Warum tue ihr Gott dieses Leid an?

Heute ist China wichtiger

Gemeinsam ist den jungen Gefallenen, dass sie weit entfernt sind von den Denkfabriken und Talkshows, bei denen von der angeblich bedrohten Glaubwürdigkeit der USA gesprochen wird. Aus Sicht von Team Biden ist der Vorwurf ohnehin nicht ernstzu nehmen, die USA würden nach dem Abzug aus einem nicht gewinnbaren Krieg auf einem weltpolitischen Nebenschauplatz plötzlich die NATO-Verbündeten und Möchtegern-NATO-Mitglieder in Osteuropa oder sonstige Partner im Stich lassen.

Der fortgesetzte Krieg gegen die Taliban mit deren langem Atem war nicht mehr im US-Interesse. Viel bedeutendere Probleme liegen in der Rivalität mit China. Biden, lange Zeit Kriegsbefürworter, widersetzte sich letztendlich der Sicherheitsindustrie, die einen großen Anteil der geschätzt zwei Billionen Dollar US-Kriegsausgaben in die eigenen Taschen gesteckt hat. Afghanistan war ein gutes Geschäft, der Aufbau von Mädchenschulen Nebensache. Unmittelbar nach den Anschlägen von 9/11 genoss der Militäreinsatz in den USA überwältigende Zustimmung. Die paar Tausend, die durch Manhattan zogen mit einem hoffnungsvollen „Peace, Shalom, Saalam“ standen auf verlorenem Posten. Nur ein Kongressmitglied, die Demokratin Barbara Lee, stimmte am 14. September 2001 gegen die Resolution zur Autorisierung „aller notwendigen und angemessenen militärischen Maßnahmen“ gegen Nationen, die am Anschlag beteiligt waren.

Manche TV-Persönlichkeiten steckten sich die amerikanische Flagge ans Revers. Der Kalte Krieg war vorbei, den vereinigenden Feind Sowjetunion gab es nicht mehr, und der neue „Krieg gegen den Terror“ würde die von 9/11 verwundete Nation zusammenkleben. Eine Zeit lang ging das. Zu Hause erlebten US-Amerikaner einen massiven Ausbau des Sicherheitsstaates. Doch eben nur eine Zeit lang. Umfragen heute zeigen mehrheitlich Zustimmung zum Abzug. Biden liegt im Trend. Auf den Fernsehbildschirmen wimmelt es nun plötzlich von Experten für Evakuierungen aus Krisengebieten. Das rechte Amerika hat es gar nicht leicht, will es Biden und den Truppenabzug kritisieren. Übervater Donald Trump verlangte ihn seit vielen Jahren. Nach dem Blutvergießen in Kabul wittern Republikaner die Gunst der Stunde. Kritik wird zugespitzt auf das „Wie“ des Abzugs.

Manche Republikaner fordern Bidens Rücktritt oder ein Impeachment, nehmen Abschied von der Gepflogenheit, dass die Politik inmitten von Krisen – und wenn es um das Wohl der Soldaten geht –, erst einmal zusammenhält. Der Kabelsender Fox News hat Alarmstufe Rot ausgerufen: Bidens Präsidentschaft sei am Wanken, hieß es, und der Kongress müsse zu einer Sondersitzung zusammentreten. Panik wird geschürt. Biden habe „keinen Plan und keine Strategie“, meint die republikanische Senatorin Marsha Blackburn. Er müsse gehen, Bidens Ansehen in der Welt sei „für immer reduziert“, erklärt die Abgeordnete Vicky Hartzler.

Tatsächlich ist das Regieren schwerer geworden. Schon vor dem Anschlag steckte Biden nach anfänglichen Erfolgen bei der Konjunktur- und Corona-Politik in Schwierigkeiten. Im Kongress haben die Demokraten nur eine hauchdünne Mehrheit, und die rapide Verbreitung des Virus nach Monaten des Rückgangs der Infektionen untergräbt das Image des Präsidenten als eines kompetenten Managers. Covid verbreitet sich wieder, weil republikanische Gouverneure Maskenvorschriften verbieten und sich viele im trumpistischen Spektrum aus Prinzip nicht impfen lassen. So schwindet die Hoffnung auf einen „normalen“ Spätsommer und Herbst, die Unsicherheit kehrt zurück.

Der multinationale Militäreinsatz in Afghanistan ist vorbei. Biden hat Vergeltung für den Anschlag am Flughafen angedroht in Worten, die an George W. Bush 2001 erinnern. Das World Food Programme der Vereinten Nationen warnte Mitte August, dass 14 Millionen der 38 Millionen Menschen in Afghanistan von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht seien und zwei Millionen Kinder von Unterernährung. Nicht nur die US-Regierung steht vor der Frage, welche Verantwortung sie übernimmt für Humanitäres.

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