Gestört

Linksbündig Der Bohlen-Effekt - Bücher kaufen, deren Autoren man gering schätzt - und die Demokratie

Laut einer Forsa-Umfrage in der vorigen Woche haben 50 Prozent der Bevölkerung "Verständnis" für die Kritik der Gewerkschaften an Schröders Agenda 2010; 39 Prozent dagegen nicht. 45 Prozent sowohl der Bevölkerung als auch der Noch-SPD-Anhänger finden den Widerstand der Gewerkschaften laut Emnid sogar "richtig". Wie konnte das passieren? War das Wetter zu schön, dass die Leute die Glotze verschmähten? Lesen sie keine Zeitung mehr? Wie lange wird uns von dort schon erklärt, dass "wir" uns das Soziale am Staat nicht mehr leisten können? Wieso kriegen das nur so wenige mit?

Relativ schnell wird man sich darauf einigen können, dass es nicht an der Cleverness der Gewerkschaften liegt. Wenn der grüne Verdi-Chef Bsirske von Schröder und Schmoldt als Buhmann ausgestellt wird, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass unter dieser Folie innersozialdemokratische Feindschaften umso heftiger ausgetragen werden. Die Gockel-Konkurrenz aller großen Vorsitzenden tut ihr Übriges. Geschickt verbergen so die Gewerkschaftsspitzen selbst, dass in ihren Reihen durchaus auch nachgedacht und diskutiert wird, dass es dort sogar richtige Ideen zur Modernisierung des Sozialstaates gibt.

Die sind für die Mehrheit der Bevölkerung bisher aber eher geheim geblieben. Politische Klasse und Medien wissen dagegen durchaus darüber Bescheid, obwohl sie es interessegeleitet gar nicht wissen wollen. Sie gefährden so nicht nur den Sozialstaat. Sie stellen damit auch die Demokratie zur Disposition.

Niemand zweifelt, dass Schröder seine Agenda 2010 beim SPD-Parteitag durchsetzen kann. Den innerparteilichen Widerstand wird er mit unverbindlichem Zuckerbrot und verbindlicher Peitsche überwinden. Vermutlich bereitet er seine Partei damit jedoch auf eine ähnlich lange Oppositionszeit vor, wie es einst Helmut Schmidt, ebenfalls nach seinem zweiten Wahlsieg, getan hat. Um mit Harald Schmidt zu witzeln: Die SPD kommt damit dem Projekt 18 erheblich näher, als es die FDP geschafft hat.

Das Polit-Geschehen hat sich mitsamt seiner Medien-Begleitmusik so eingebunkert, dass es die gesellschaftliche Wirklichkeit im Land nicht mehr bemerkt. Die Kommunikation ist gestört. Wie sonst konnte das "neue Preissystem" der Bahn entstehen, das ihr in drei Monaten bereits 180 Millionen Euro Mindereinnahmen beschert hat? Wie sonst können ARD und ZDF mitten in einer veritablen Medienstrukturkrise auf die Idee kommen, die TV-Gebühren müssten wieder erhöht werden? Und die Fußball-Bundesliga auf die Idee, die ARD könne sie nach der Pleite des alten Partners Kirch weiter durchfinanzieren? Wie konnte der schleswig-holsteinische Landtag eine prinzipiell sinnvolle Diätenreform (Erhöhung der zu versteuernden Diät bei Streichung der steuerfreien Kostenpauschale und der überdimensionierten Altersversorgung) so versemmeln? (Indem er die Erhöhung ein paar Jahre früher terminierte als die Streichungen?)

Die Mediengesellschaft scheint nicht Therapie zu sein, sondern Krankheit. Sie vermittelt nicht Informationen und Erklärungen, Verständnis und Toleranz. Sie trennt Wissende und Unwissende, Hype und Ghetto. Wie viele Grenzübertritte gibt es zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Neukölln? In jeder deutschen Großstadt verstärkt sich die Segregation. Die kommunikativ so wichtigen Vermischungen in "hippen" Stadtteilen sind immer kürzere Übergangsstadien.

Die einen lassen sich darstellen, die andern begaffen sie zwar, halten sie aber für um so bekloppter, je länger sie es tun. Die Begafften sind dagegen stolz wie Oskar (eine Spruchweisheit, die aktuell besonders gut passt). Ihr Interesse gilt der Hitparade der meisten Talkshow-Einladungen. Es führt in der Regel Westerwelle, den aber nur sieben Prozent gewählt haben. Das ist das gleiche Prinzip, nach dem der Markt der Bohlen- und Effenberg-Bücher funktioniert. Ihre Käufer, von denen es vermutlich mehr als Leser gibt (Geschenke!), werden immer beteuern, für wie bescheuert sie den Autor halten. So tun wir es auch mit unseren Politikern.

Auf die Agenda 2010 gemünzt: die einen setzen sie durch, die andern sind davon betroffen. Ein Leser der Frankfurter Rundschau, gerade arbeitslos gewordene Führungskraft, kommentierte es so: "Allen, die nach mir kommen, gilt mein ehrliches Mitgefühl." Er ist 56.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden