Gib mir den Ostsee-Anrainer-Beat

JazzBaltica Seit den neunziger Jahren bringt ein Festival Jazz-Musiker aus Schleswig-Holstein und dem Baltikum zusammen. Aber gibt es den typisch baltischen Sound?
John Taylor, Anders Jormin, Marilyn Mazur und Josefine Cronholm sind Celestial Circle
John Taylor, Anders Jormin, Marilyn Mazur und Josefine Cronholm sind Celestial Circle

Foto: Colin Eick/ ECM Records

Das Fernglas einmal umzudrehen und den Blick statt in die Ferne über das nähere Umfeld schweifen zu lassen, war das erklärte Programm der JazzBaltica, als sie Anfang der 90er-Jahre die ersten Schritte tat. Das Festival war Teil eines Konzeptes von Björn Engholm, der als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein durch einen stärkeren Austausch mit den mittelbaren Nachbarn rings um das baltische Meer an die vergangene Blüte der Hanse anknüpfen wollte. Engholm war bald Geschichte und vom Interesse des Festivals für den Ostseeraum zeugten nur noch der Name und einige Stamm-Musiker, als der langjährige künstlerische Leiter Rainer Haarmann nach einer drastischen Kürzungsorgie im vergangenen Jahr nicht ganz freiwillig den Stab an den schwedischen Posaunisten, Tausendsassa und Festivalmacher Nils Landgren übergab. Landgren, dessen eigener künstlerischer Durchbruch beim deutschen Publikum eng mit dem Festival verknüpft ist, fand einen neuen Standort für das Festival in einer alten Werft im kleinen Fischerhafen Niendorf in der Lübecker Bucht, gab die Losung aus: „Komm mit ans Meer“ und kündigte an, sich wieder stärker auf das Tun der Musiker aus den Ostseeanrainerländern zu beziehen.

Unlängst ging die erste JazzBaltica unter Landgrens Leitung über die Bühne, alles klappte prima, Sound, Wetter und Publikumszuspruch nach dem wolkenbruchartigen Regen zum Auftakt stellte sich selbst das Wetter auf die Seite des Festivals, der Publikumszuspruch übertraf alle Erwartungen (und die Vorjahre ohnehin), und auch die Soundprobleme in der Werfthalle bekam man in den Griff. Nun kann man fragen, ob es diesen baltischen Jazz eigentlich gibt, der die Gemeinsamkeit kulturelle Wurzeln spiegeln soll. Ob die Musiker des Festivals mehr mit einander verbindet als mit Musikern aus anderen Kulturkreisen, amerikanischen etwa, italienischen oder französischen? Ob sie klangliche Vorstellungen teilen, Vorlieben für bestimmte Harmonien, Melodien, Rhythmen, musikalische Strategien? Oder ob die Vorstellung eines baltischen Jazz eine aufgesetzte, zufällige Kategorie ist, in der sich nur das Faktum politischer Grenzziehungen spiegelt und eine räumliche Nähe, die hilft, Reisekosten zu minimieren.

Es gebe Verwandtschaften der folkloristischen Traditionen in den verschiedenen Ländern Skandinaviens, argumentierte der Bassist Lars Danielsson in einer der öffentlichen Gesprächsrunden des Jazzpublizisten Christian Bröcking, die sich in der Musik von Jazzmusikern aus der Region niederschlagen. Ähnliche melodische Formeln, ähnliche Instrumente und Klänge, einen ähnlichen Umgang mit Fülle und Verdichtung beziehungsweise ihrem Gegenteil: Raum und Stille. Und man kann diese Gemeinsamkeit hier und dort erahnen, in manchen Passagen des Jazz Baltica Ensemble zum Beispiel, in Danielssons melodischem Spiel tief im Bauch des Power-Ensembles des polnischen Geigers Adam Baldych, in den durchscheinenden Klangtexturen von Marilyn Mazurs Quartett Celestial Circle, vielleicht auch in der feinsinnigen Improvisationskultur der Newcomerband Flickstick, die mit dem JazzBaltica Förderpreis ausgezeichnet wurde und ganz sicher in der Zwiesprache von Akkordeon und Kontrabass im nächtlichen Konzert des finnischen Folk-Duos Lepistö & Lehti.

Doch solche Momente, wo die Musik sehrspeziell wird und sich vom Jazz-Mainstream absetzt, bleiben auch bei der JazzBaltica rar.

Adam Baldych & The Baltic Gang Imaginary Room, ACT. Marilyn Mazur Celestial Circle, ECM Lepistö & Lehti: Helsinki, Aito

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