Das Fernglas einmal umzudrehen und den Blick statt in die Ferne über das nähere Umfeld schweifen zu lassen, war das erklärte Programm der JazzBaltica, als sie Anfang der 90er-Jahre die ersten Schritte tat. Das Festival war Teil eines Konzeptes von Björn Engholm, der als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein durch einen stärkeren Austausch mit den mittelbaren Nachbarn rings um das baltische Meer an die vergangene Blüte der Hanse anknüpfen wollte. Engholm war bald Geschichte und vom Interesse des Festivals für den Ostseeraum zeugten nur noch der Name und einige Stamm-Musiker, als der langjährige künstlerische Leiter Rainer Haarmann nach einer drastischen Kürzungsorgie im vergangenen Jahr nicht ganz freiwillig den Stab an den schwedischen Posaunisten, Tausendsassa und Festivalmacher Nils Landgren übergab. Landgren, dessen eigener künstlerischer Durchbruch beim deutschen Publikum eng mit dem Festival verknüpft ist, fand einen neuen Standort für das Festival in einer alten Werft im kleinen Fischerhafen Niendorf in der Lübecker Bucht, gab die Losung aus: „Komm mit ans Meer“ und kündigte an, sich wieder stärker auf das Tun der Musiker aus den Ostseeanrainerländern zu beziehen.
Unlängst ging die erste JazzBaltica unter Landgrens Leitung über die Bühne, alles klappte prima, Sound, Wetter und Publikumszuspruch nach dem wolkenbruchartigen Regen zum Auftakt stellte sich selbst das Wetter auf die Seite des Festivals, der Publikumszuspruch übertraf alle Erwartungen (und die Vorjahre ohnehin), und auch die Soundprobleme in der Werfthalle bekam man in den Griff. Nun kann man fragen, ob es diesen baltischen Jazz eigentlich gibt, der die Gemeinsamkeit kulturelle Wurzeln spiegeln soll. Ob die Musiker des Festivals mehr mit einander verbindet als mit Musikern aus anderen Kulturkreisen, amerikanischen etwa, italienischen oder französischen? Ob sie klangliche Vorstellungen teilen, Vorlieben für bestimmte Harmonien, Melodien, Rhythmen, musikalische Strategien? Oder ob die Vorstellung eines baltischen Jazz eine aufgesetzte, zufällige Kategorie ist, in der sich nur das Faktum politischer Grenzziehungen spiegelt und eine räumliche Nähe, die hilft, Reisekosten zu minimieren.
Es gebe Verwandtschaften der folkloristischen Traditionen in den verschiedenen Ländern Skandinaviens, argumentierte der Bassist Lars Danielsson in einer der öffentlichen Gesprächsrunden des Jazzpublizisten Christian Bröcking, die sich in der Musik von Jazzmusikern aus der Region niederschlagen. Ähnliche melodische Formeln, ähnliche Instrumente und Klänge, einen ähnlichen Umgang mit Fülle und Verdichtung beziehungsweise ihrem Gegenteil: Raum und Stille. Und man kann diese Gemeinsamkeit hier und dort erahnen, in manchen Passagen des Jazz Baltica Ensemble zum Beispiel, in Danielssons melodischem Spiel tief im Bauch des Power-Ensembles des polnischen Geigers Adam Baldych, in den durchscheinenden Klangtexturen von Marilyn Mazurs Quartett Celestial Circle, vielleicht auch in der feinsinnigen Improvisationskultur der Newcomerband Flickstick, die mit dem JazzBaltica Förderpreis ausgezeichnet wurde und ganz sicher in der Zwiesprache von Akkordeon und Kontrabass im nächtlichen Konzert des finnischen Folk-Duos Lepistö & Lehti.
Doch solche Momente, wo die Musik sehrspeziell wird und sich vom Jazz-Mainstream absetzt, bleiben auch bei der JazzBaltica rar.
Adam Baldych & The Baltic Gang Imaginary Room, ACT. Marilyn Mazur Celestial Circle, ECM Lepistö & Lehti: Helsinki, Aito
Kommentare 1
Engholms "Jazz Baltica" sollte sicherlich die Ostsee-Länder kulturell näherbringen, insofern ist es ein typisch politisch-kulturell motiviertes Projekt. Die Tatsache, dass in der Namensgebungs selbst eine vermeintlich eigenständige musikalische Ausdrucksform angedeutet wird, hat sich sicherlich bisher nicht bewahrheitet.
Insoferon sind die musikalischen Erwartungen sicherlich nicht in Erfüllung gegangen. Es dürfte aber sicherlich ebenfalls von großem Interesse sein, daß viele der musikalischen Entwicklungen insbesondere in den skandinavischen Ländern - anders als bei uns oder den osteuropäischen Anrainers-Ländern - direkt mit der speziellen Art der Protegie inländischer Künstler dort zu tun hat.
Ich spreche hier auch aus eigener Erfahrung als holsteinischer Blues-Musiker, der in Ländern wie Dänemark, Schweden, ehemals DDR, Estland, Russland gespielt hat. Schweden zum Beispiel praktiziert im Musik-Business etwa dasselbe wie Deutschland in der Wirtschaft: sehr viel Export und nur gezielt ausgesuchten Import, vornehmlich aus den USA und England. Vieles, was im Berliner Jazz-Festival zum Ausdruck kam - eher Stillstand als Entwicklung, bei zunehmend wiederkommenden Akteuren - ist also zuallererst für den Zustand verantwortlich. Desrnächstfolgende, wichtigste Aspekt ist die Tatsache, daß man weder in Schleswig-Holstein, noch sonstwo in Deutschland oder irgendwo in unserem Kulturkreis, ein größeres Publikum für experimentelle Formen von Jazz begeistern kann und können wird, insofern ist jeder Versuch, es doch wieder einmal zu versuchen, schon im Ansatz gescheitert, soetwas passiert immer und zu allen Zeiten, überall auf der Welt, in kleinen Musik Clubs - ohne irgendwelche Form staatlicher "Förderung". Jede Form von "Lenkung" in diesem Sinne ist deshalb schon vom Ansatz her ein Rohrkrepierer. Kreativität kann man nicht erzeugen oder fördern, mit Geld schon gar nicht, dies bewirkt meist das genaue Gegenteil - fragen Sie Charlie Parker!
Zum Schluß noch eine eher profane Anmerkung zum Jazz-Baltika. Es ist schlichtweg eine lange Tradition in S-H seit Nach-WWII, allem was mit Jazz zu tun hat, das Zusatzattribut "Baltica" anzuhängen, das gibt den schönen blau-weissen Standardanzügen ein klein wenig weltmännischen/hanseatischen Flair.