Gibst Du mir Weisheit, geb ich dir Sex

Missbrauchs-Debatte Aller Anfang liegt in der Antike: Was hat es mit der Knabenliebe und dem pädagogischen Eros bei Platon genau auf sich? Ein Schnellkurs

Nehmen wir Platons Dialog Gastmahl (besser übersetzt als Trinkgelage). Seit Jahrhunderten wird er zitiert, um von pädagogischem Eros beseelte Päderasten zu entschuldigen. Ein großes Missverständnis. Platon schildert die Unterhaltung einer Reihe namhafter realer Persönlichkeiten Athens, darunter Sokrates, die im Jahr 416 v. Chr. über die Liebe reden. Die Männer sind sämtlich über 30, bis auf Agathon, 29, der vermutlich seit mehr als 16 Jahren mit dem älteren Pausanias befreundet ist (von wann bis wann sie Sex hatten, weiß man nicht).

Platon ist nicht naiv, er weiß: Wer liebt, begehrt auch körperliche Nähe, will Sex. Aber was will man wirklich, wenn man liebt – das ist seine Frage. Interessant für die aktuelle Missbrauchs-Debatte ist die Rede des Pausanias. In der Figur zeichnet Platon einen überheblichen, schulmeisterlichen Aristokraten, der die Sitte in Athen mit der anderswo vergleicht und dabei die Frage diskutiert, wann es angemessen ist, dem Werben eines Älteren nachzugeben. Wo man dies pauschal verwerfe, werde die Tyrannei gestärkt – zuviel Liebe und Freundschaft unter den Untertanen ist den Machthabern gefährlich. Wo dies pauschal gestattet sei, werde dagegen die Mühe des Werbens gescheut.

Pausanias beklagt, dass sich viele Männer (Frauen hatten offiziell nichts zu sagen) in Knaben verlieben und Beziehungen mit ihnen haben, sie aber wieder fallen lassen, sobald ihnen der Bart wächst, um sich einen Jüngeren zu suchen – Platon beschreibt in seinem Dialog eine antike Realität. Kein Mann mit Verstand werde sich jedoch mit so jungen Knaben einlassen, erwidert Panasius, wisse man doch nicht, was aus ihnen werde. Wer seinen Wunsch nicht unterdrücken kann, dem solle das per Gesetz verboten werden. Die Pädophilie wird also verworfen.

Wissen durch Erfahrung

Pausanias fragt nun weiter, wie am besten mit der Liebe zwischen alt und jung umzugehen wäre. Er hat dabei langjährige Beziehungen im Blick, die gute päderastische Beziehung (παιδεραστία) setzt sich also ins hohe Alter fort. Es gebe nur zwei Anlässe, sich darauf – und dabei auch auf Sex – einzulassen: Verliebtheit und Erziehung zur Tugend. Nicht pure Lust (zu „demokratisch“), auch nicht die Hingabe für das Versprechen auf Macht, Geld oder Ämter, ist legitim, sondern einzig der Erwerb von Wissen durch Erfahrung. Akzeptabel sei nur die Beziehung, in der beides zusammentreffe: die Bereitschaft des Älteren, den Jüngeren von seiner „Weisheit“ profitieren zu lassen, und der Wille des Jüngeren, zu lernen.

Pausanias entwirft in der Kritik an der damaligen Realität ein Ideal der Päderastie. „Gibst Du mir Weisheit, gebe ich Dir Sex“: dieser Vorschlag eines Tauschhandels übersteigt bei weitem, was anerkannter Brauch war, zum Beispiel den Sex (mit oder ohne Gebärfähigkeit) gegen ein sicheres Heim einzuhandeln. Allerdings wird ein solcher Handel von Platon auch wiederum verworfen, exemplifiziert an Sokrates, der den 20 Jahre jüngeren, attraktiven Alkibiades zurückweist.

Alkibiades, der später tatsächlich großer Feldherr, Stratege und Politiker wurde, bietet Sokrates einen solchen Handel an, um von dessen Weisheit zu profitieren. Sokrates reicht das nicht. Wie ist diese Zurückweisung des „Deals“ zu verstehen? Platon weist nicht den Sex an sich zurück (die Deutung der „platonischen Liebe“, die den Sex pauschal ausschließt, ist von Jahrhunderten christlicher Moral geprägt), sondern den Sex als Tauschgegenstand. Liebe ist für ihn mehr als ein gegenseitiges Nutzenverhältnis.

Bleibt die Pädagogik. In der Figur der ­Diotima, Priesterin der Fruchtbarkeit (die einzige erfundene Figur im Drama), lässt Platon den pädagogischen Eros zu Wort kommen: Wer liebt, will mehr als nur für immer mit dem anderen zusammen zu sein: Er will mit ihm etwas schaffen. Liebe animiert uns, Gutes in die Welt zu setzen, insofern ist sie pädagogisch, besser psychagogisch: sie führt die „Seele“ zu Höherem. Platon sagt also nicht, dass die Pädagogik erotisch werden soll, sondern die Liebe anspruchsvoll.

Im besten Falle zieht man durch den Anspruch den anderen zu sich hoch, im schlechtesten lässt man ihn ziehen. Wie Sokrates den Alkibiades.

Michael Groneberg lehrt Philosophie an der Universität Lausanne (CH); seine Neuübersetzung von Platons Symposion mit Kommentar und Beiträgen (auf frz.) erscheint Anfang Mai.

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