Betreuung älterer Menschen Als zusätzliche Kräfte sind Ein-Euro-Jobber in Seniorenheimen beliebt. Das fehlende qualifizierte Personal können sie nicht ersetzen
Jürgen N. ist 56 Jahre, trockener Alkoholiker und langzeitarbeitslos. Seit letztem Jahr arbeitet er als Ein-Euro-Kraft in einem Seniorenheim. Zu Beginn war er unsicher, wusste nicht, ob er mit alten Menschen umgehen könne, war schüchtern gegenüber dem Personal. Mittlerweile hat sich die Unsicherheit gelegt. "Ich komme gerne hierher, auch am Wochenende, wenn es heiß ist, dann gieße ich die Blumen", erzählt er. Er begleitet Bewohner bei Arztbesuchen, bringt sie aus den verschiedenen Wohnetagen zur Beschäftigungstherapie und kümmert sich um den Garten.
Wenig reguläre Ausbildungsplätze
Bingonachmittage, Kuchen backen, Spaziergänge, zusätzliche Bastelangebote: Seit Hartz IV findet all das in vielen Seniorenheimen vermehrt statt. End
imen vermehrt statt. Endlich bleibt mal jemand nach dem Frühstück bei den Senioren sitzen, schenkt Kaffee nach oder hat die Muse zuzuhören. Unruhige, sturzgefährdete alte Menschen, können jetzt häufiger in Begleitung durch Flure laufen, vielleicht sogar in den Garten gehen und finden ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Gedanken. Außerdem hat sich so manche Skat- oder Mensch-ärgere-dich-nicht-Runde etabliert."Still, satt und sauber", schimpft Holger Knörr vom Deutschen Berufsverband für Altenpflege (DBVA), "das bezahlen die Pflegekassen. Für die psychosoziale Betreuung, die rehabilitative Pflege - als eigentliche Kernaufgabe der Altenpflege - ist in der Pflegeversicherung keine Bezahlung vorgesehen." Und die übernehmen jetzt, mehr schlecht als recht, Ein-Euro-Jobber, mit oder ohne Vorkenntnisse. Dabei erfordern gerade Alterserkrankungen wie Demenz besonders geschultes Personal. "Mein Lieblingsbeispiel ist: Ein ehemaliger Schlosser geht als Seniorenbetreuer mit einer dementen Seniorin im Garten spazieren", erzählt Knörr, "plötzlich beschimpft, bedroht, bespuckt sie ihn, vielleicht schlägt sie ihn sogar. Da sind wir dann ganz schnell beim Thema Gewalt in der Pflege."Marie-Luise Müller, Präsidentin des Deutschen Pflegerates, ist ebenfalls skeptisch gegenüber dem Einsatz der Ein-Euro-Jobber. Der Markt ist unübersichtlich und schwer kontrollierbar. So wird nirgendwo zentral erfasst, wie viele Menschen allein in der Seniorenbetreuung eingesetzt sind, da jedes Jobcenter, in Berlin allein zwölf, seine eigenen Einsätze plant. "Unser Problem ist", sagt Müller, "dass allgemein, auch in der Politik, die Meinung vorherrscht: Pflege? Das kann jeder machen. Bei uns ist zwar die Berufsbezeichnung Altenpfleger geschützt, nicht aber die Tätigkeiten an sich, so dass die im Prinzip von jedem erbracht werden können."Eine "Miniausbildung" ist während des Einsatzes als Seniorenbetreuer immerhin möglich. Diejenigen, die in der Pflege arbeiten möchten und sich das zutrauen, können eine 200-Stunden-Basiqualifizierung bei einem Bildungsträger machen, der die Schulung aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert. Vor allem ambulante Pflegedienste suchen händeringend Leute, so dass manche Ein-Euro-Kräfte nach dem sechsmonatigen Betreuungsjob durchaus eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Allerdings zu schlechten Bedingungen: Bruttostundenlöhne zwischen fünf und acht Euro sind die Regel, die Arbeitsverträge oft zeitlich befristet, gearbeitet wird im Dreischichtsystem ohne zusätzliche Wochenend- oder Nachtzuschläge, der personelle Wechsel ist hoch. Ein neues Heer an schlecht ausgebildeten Hilfspflegerinnen und -pflegern wird da ausgebildet, die als ehemalige Langzeitarbeitslose zu Dumpinglöhnen geheuert und gefeuert werden können und kaum Aufstiegschancen haben.Die Arbeitsförderung sollte viel mehr ordentliche Ausbildungsplätze finanzieren, um dem Pflegebedarf unserer alternden Gesellschaft aufzufangen, fordert Christina Kaleve vom DBVA. "Altenpflegekräfte erbringen neun Millionen Überstunden und ersetzen bundesweit 12.600 zusätzliche Vollzeitstellen." Angesichts der hohen Erwerbslosenzahlen einerseits und dem Pflegefachmangel andererseits wäre eine Finanzierung der dreijährigen Pflegeausbildung von Arbeitslosen besser, als einen Ein-Euro-Jobber nach dem anderen durch die unterschiedlichsten Pflegeeinrichtungen zu schleusen. Doch eine solche Ausbildung wäre teuer und die politischen Prioritäten liegen eher auf der Bereinigung der Arbeitslosenstatistik, als bei der Frage eines sinnvollen Einsatzes der finanziellen Mittel.Stellenabbau längst erfolgtDamit durch die Jobs für einen Euro Mehraufwandsentschädigung (MAE) nicht reguläre Arbeitsplätze verloren gehen, müssen die Jobcenter kontrollieren, ob diese Arbeit wirklich zusätzlich ist. "Wir prüfen einerseits routinemäßig, andererseits sofort dann, wenn uns Beschäftigte auf Missstände aufmerksam machen", erklärt Gerd Gregor, vom Jobcenter Marzahn-Hellersdorf. Dann kommen Mitarbeiter angemeldet oder unangemeldet in Seniorenheime und lassen sich die Einsatzstelle der Ein-Euro-Kräfte zeigen. Die Kritik, die Jobcenter würden zu selten die Zusätzlichkeit prüfen, weist Gregor zurück: "Noch sind wir ja erst einmal für die Vermittlung der Kunden da. Wir sind nicht ein reines Prüforgan."In Berlin haben Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer und Wirtschaftssenator Harald Wolf eine Positivliste auch für Seniorenhelfer herausgegeben. Hier sind alle erlaubten zusätzlichen Tätigkeiten wie zum Beispiel gemeinsames Basteln, Spaziergänge, Wissensspiele, Begleitung bei Theaterbesuchen genau aufgeführt. Ausdrücklich verboten laut Liste sind: Medikamente verabreichen, Putzen, Anreichen von Essen, Entfernen von Exkrementen und Erbrochenem."Natürlich gehe ich mit den Leuten aufs Klo, wenn niemand da ist und meist ist da niemand. Die Pfleger haben doch immer viel zu tun", erzählt Manuela H., die in einer kleinen Seniorenpflegeeinrichtung arbeitet. "Wenn ich den Bettlägerigen die Zwischenmahlzeit nicht gebe, dann bekommen die einfach gar nichts", erzählt Nicole K., die in einer anderen Einrichtung arbeitet. Jürgen N. dagegen meint: "Ich mache nur das, was auf der Liste steht. Ich kümmere mich um den Garten, bringe die Wäschesäcke nach unten, aber ich bringe niemanden aufs Klo. Das kann ich gar nicht."Ob die Ein-Euro-Jobber tatsächlich nur zusätzliche Arbeiten übernehmen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Manche Heimleitung drückt gerne mal eine Auge zu, wenn pflegerische Arbeiten übernommen werden, die das Personal entlasten. Auch sind die Beschäftigungsträger unterschiedlich organisiert. Einige verwalten 100 und mehr Ein-Euro-Jobber, vermitteln sie an irgendwelche Einsatzstellen, während andere Träger sich intensiv um jeden Einzelnen bemühen, ein individuelles Coaching anbieten und die Seniorenbetreuer regelmäßig in den Heimen besuchen. Die Versuchung ist allerdings groß, freie Stellen in der Hausmeisterei, Hauswirtschaft, in der Küche sowie in der Pflege vorübergehend - mitunter für mehrere Monate - nicht zu besetzten. "Bei uns ist der Hausmeister schon seit einem halben Jahr krank", erzählt Jürgen N., während er die Büsche im Garten beschneidet, das Efeu gießt und den Senioren Mineralwasser oder Saft nachschenkt.Möglichst viele Leistungen zu möglichst geringen Sätzen anzubieten, das ist das Ziel der betriebswirtschaftlich geführten Einrichtungen, denn die Konkurrenz unter den Pflegeheimen ist groß und die Zuzahlungen pro Platz, die von der Rente oder den Angehörigen monatlich geleistet werden müssen, entscheiden oft darüber, ob jemand seine Mutter oder den Opa in dieses Heim, oder doch lieber in das andere, etwas preiswertere, gibt. Rainer Lachenmayer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, einem der großen Arbeitgeber für Ein-Euro-Jobber, hat für die Frage des Arbeitsplatzabbaus allerdings nur ein trockenes Lachen übrig. "Der organisierte Stellenabbau hat doch schon in den Jahren davor durch die 400-Euro-Jobs stattgefunden! Da wurden viele Vollzeitarbeitsplätze abgebaut, gleichzeitig wurden mehr und mehr pflegefremde Dienstleistungen ausgelagert, wie die Putzkolonnen oder die Wäscherei." Dass jetzt vielleicht noch der eine oder andere 400-Euro-Job in der Hausmeisterei oder in der Pflege wegfällt, wird niemanden mehr interessieren.In manchen Senioreneinrichtungen sind 30 und mehr Ein-Euro-Kräfte eingesetzt. Natürlich profitieren die alten Menschen und das Heim von den zusätzlichen Kräften. Aber nach sechs bis neun Monaten ist Schluss mit der zusätzlichen Betreuung. "Das ist der totale Wahnsinn bei uns. Jede Woche kommen und gehen hier neue Gesichter, sind mal für drei Wochen da, verschwinden wieder. Die Alten wissen gar nicht, wie ihnen geschieht", erzählt Jürgen N. kopfschüttelnd. Dann ist die Maßnahme zu Ende und die Ein-Euro-Jobber können sich beim Jobcenter entweder um eine Neuzuweisung bemühen oder erst mal wieder zu Hause bleiben, während sich die Senioren und Seniorinnen wieder auf neues Personal einstellen müssen.Von Maßnahme zu Maßnahme"Die Leute sollen sich nicht in den MAE-Beschäftigungsverhältnissen einrichten, sondern auf den ersten Arbeitsmarkt zurück", so lautet die Devise der Berliner Jobcenter. Allerdings: In der Seniorenbetreuung gibt es so gut wie keine regulär bezahlten Jobs. Also rutschen die Leute von Maßnahme zu Maßnahme, von Heim zu Heim, oder auch in den Garten- und Landschaftsbau oder in eine Kindertagesstätte, werden jedes Mal erneut qualifiziert, machen wieder und wieder Erste-Hilfe-Kurse, lernen etwas über Alzheimer oder absolvieren ihr fünftes Bewerbungstraining. "Ich kann zu Hause mein Wohnzimmer mit all den Zertifikaten und Fortbildungen tapezieren, die haben mir aber noch keine Arbeit gebracht", erzählt Dagmar T., die schon zum zweiten Mal in derselben Seniorenfreizeitstätte eingesetzt ist. Das funktioniert deswegen, weil sie ihren zweiten Einsatz einfach bei einem anderen Beschäftigungsträger macht, ohne die Stelle wechseln zu müssen, so dass ihre Fallmanagerin nichts davon weiß.Horst Franke, Vorsitzender der Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg, schüttelt nur den Kopf. "Zum Teil schickt uns das Jobcenter völlig ungeeignete Leute für unsere Seniorenfreizeitstätten. Die sollten servieren können, kassieren, müssen auch mal Tische und Stühle schieben, ja die meisten können oder wollen das nicht." Gerade in einer Seniorenfreizeitstätte aber übernehmen MAE-Kräfte alles: putzen, servieren und eigenverantwortlich organisieren. Die Seniorenfreizeitstätte Lebensfreude in Friedrichshain-Kreuzberg hat täglich geöffnet und wird von einer agilen 77-jährigen Dame geleitet, ehrenamtlich, die auch den Einsatz der Ein-Euro-Jobber organisiert. Hier treffen sich viele Senioren aus der Nachbarschaft, besuchen Vorträge oder kommen einfach zum Kaffeeklatsch. "Wir haben hier keine einzig bezahlte Stelle. Natürlich müssen unsere Leute hier auch putzen. Wer soll es denn machen? Wenn es hier eine Prüfung vom Jobcenter gäbe, na ja, dann putzt hier niemand. So ist das."Jürgen N. könnte sich durchaus vorstellen in seinem Seniorenheim bis zur Verrentung zu arbeiten, anstatt nach sechs bis neun Monaten wieder zum Jobcenter zu gehen, sich nach einer neuen Maßnahme umzuschauen und zu hoffen, dass er vielleicht wieder in sein Heim zurückkommt. Diese Möglichkeit gibt es allerdings nur für ältere Arbeitslose. Im 58-plus Programm können Arbeitslose ab 58 Jahren für insgesamt drei Jahre arbeiten und sich bis zu 180 Euro im Monat hinzuverdienen. Für die vielen jüngeren Erwerbslosen, die keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, gibt es kein Programm dieser Art. Die Seniorinnen und Senioren in Jürgen N.s Heim würden sich freuen, wenn er nicht schon im Herbst wieder verschwinden würde.
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