Glänzende Stoffe

64. Berlinale Die herausragenden Filme waren selten die, die es in der Logik der Filmfestspiele sein müssten
Ausgabe 08/2014

Ein geologischer Zufall entscheidet darüber, ob aus Kohlenstoff ein Edelstein oder Brennmaterial wird. Es müssen enorme Hitze und enormer Druck einwirken, damit sich aus dem Element ein Diamant kristallisiert. Das weiß der Hauptsponsor der Berlinale, der Juwelenhersteller Tesiro aus dem chinesischen Nanking, schon von Geschäfts wegen. Der diesjährige Siegerfilm wiederum trägt die Kohle in seinem Titel: Bai ri yan Huo (Black Coal, Thin Ice). Er spielt in einem nordchinesischen Bergbaugebiet, wo ein aus der Lebensbahn geworfener Polizist eine Mordserie aufklären will.

Damit aus der geologischen Verwandtschaft Bärengold und -silber entsteht, muss man die Metaphern mischen. Die geografische Nähe ist womöglich aufschlussreicher; seit der Preisverleihung kristallisieren sich Verschwörungstheorien heraus. Natürlich weiß kein Außenstehender, welche Interessen auf Jury-Urteile einwirken.

Sie fielen in diesem Jahr halbwegs überraschend aus und scheinen in großer Unabhängigkeit gefällt worden zu sein. Bai ri yan Huo von Diao Yinan ist ein würdiger Gewinner: ein schillerndes Genrestück, das den Film noir nutzt, die sozialen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Eine Konzession des Auswahlkomitees an einen Geldgeber des Festivals könnte vielmehr die mit drei Beiträgen eher breite als starke Präsenz Chinas im Wettbewerb sein. Gab es tatsächlich keine nennenswerten Einreichungen aus Osteuropa oder dem Iran?

Norwegischer Tarantino

Die Preisvergabe spiegelt einen Wettbewerb wider, der den Betrachter ratlos zurücklässt. Den Wettstreit mit Cannes und Venedig, wo große Namen miteinander ins Gespräch gebracht werden, hat die Berlinale aufgegeben. Dagegen setzt sie das Pathos der Neuentdeckung. Auch so kann man Nachricht geben vom Stand der Dinge im Weltkino; eine Hochleistungsschau wurde aber auch diesmal nicht daraus.

Es gab beachtliche Funde wie Macondo, das Spielfilmdebüt der Dokumentaristin Sudabeh Mortezai, das ein klischeefernes, atmosphärisch reiches Bild vom Leben in einer Migrantensiedlung am Rande Wiens zeichnet. Zu einer dramaturgischen Inbesitznahme seines Stoffes ringt sich der Film nur zögerlich durch. Darin steht er symptomatisch für eine Tendenz des Programms: die Vielzahl von Beiträgen, die sich die Welt nur mehr impressionistisch aneignen.

Historia del Miedo (Geschichte der Angst) des Argentiniers Benjamin Naishtat führt mustergültig diesen Blick vor, dem es an erzählerischer Entschlossenheit gebricht. Als Ausweg aus der Orientierungslosigkeit wählen im Gegenzug viele Filmemacher das Sicherheitsnetz bewährter Erzählmodelle. Jack von Edward Berger bewegt sich thematisch und stilistisch im Fahrwasser der Dardenne-Filme; überdies waren ein norwegischer Tarantino-Abklatsch, eine chinesische Leone-Hommage und diverse lateinamerikanische Filme zu sehen, die der Verweigerungsästhetik der frühen Berliner Schule verpflichtet sind.

So ist es für die Logik der Berlinale entmutigend, dass die herausragenden Filme dieses Jahrgangs von etablierten Filmemachern stammen. Unter den deutschen Beiträgen sticht Dominik Grafs filmischer Briefroman Die geliebten Schwestern hervor, der demonstriert, welch elegante Allianz Kostümfilm und literarische Beredsamkeit eingehen können. Richard Linklaters Boyhood avancierte nicht nur zum Publikums- und Kritikerfavoriten, weil er mit seiner 12-jährigen Drehzeit ein kühnes Erzählexperiment darstellte. Er war ein Labsal für die Zuschauer, da er ein ungewohnt zuversichtliches Bild des Heranwachsens entwirft.

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