Der große Verlierer der Ereignisse zwischen dem 19 und 21. August in Moskau - daran bestand schon wenig später nicht der geringste Zweifel - hieß Michael Gorbatschow. Er hatte sich zuvor nicht dazu durchringen können, den Reformflügel in der KPdSU anzuführen und den Fundamentalisten im Gegenzug die Kommunistische Partei Russlands zu überlassen. Die 1985 begonnenen Reformen hätten sich in diesem Fall höchstwahrscheinlich auf evolutionärem Wege fortführen lassen, ohne den jähen Bruch, wie es ihn nach dem Augustputsch gab. Auch wäre Boris Jelzin kaum in jene Machtposition geraten, die ihm bald unumschränkte Vollmachten erlaubte.
Bis zuletzt hatten die Wortführer der Perestroika wie der liberalen Presse Gorbatschow aufge
Gorbatschow aufgefordert, sich an die Spitze der demokratischen Bewegung zu stellen, anstatt mit ihr zu kokettieren. Als Präsident und Nobelpreisträger besaß er im Sommer 1991 durchaus noch die Autorität, auch in der Umgebung Jelzins Mehrheiten zurück zu gewinnen, um dessen Ansprüche zu zügeln. Andererseits agierte das »demokratische Lager« nie als homogene Formation, die wild entschlossen war, politische Verantwortung zu übernehmen. Vom Selbstverständnis her sah sich die intellektuelle Elite der Glasnost-Ära lieber als »moralische Instanz«, immer bereit, sich im Biwak nationaler Mythen einzurichten, weniger an Handlungsfähigkeit als an Kontemplation interessiert, einzig und allein durch einen kategorischen Antikommunismus geeint - getrieben von Sonjas berühmter Frage aus Tschechows Onkel Wanja »Was sollen wir tun?« - Die nach Hunderttausenden zählende Anhängerschaft der Partei Demokratisches Russland sah sich als Staffage dubioser Machtspiele missbraucht, auf die sie ohne Einfluss blieb.Jelzins RegimeAngesichts der Imperative, mit denen die Geschichte des vergangenen Jahrezehnts aufwartete, scheinen die eingangs formulierten Konjunktive allerdings eher deplatziert. Es bleibt eine Tatsache, dass Gorbatschow im August vor zehn Jahren in seinem Gebaren weniger an einen agilen Staatschef als an den letzten russischen Zaren Nikolaus II. erinnerte, der 1916/17 hilflos zugesehen hatte, wie ihm die Macht entglitt und das Land in den Wirren von Bürgerkrieg und Revolution versank. So war auch im August 1991 wie im Oktober 1917 schließlich die epochale Zäsur nicht zu vermeiden. Die Konfrontation zwischen Konservativen und Demokraten wirkte wie ein Katalysator, um den Zerfall der UdSSR zu beschleunigen. Binnen weniger Monate brach das kommunistische Imperium mit seiner 70jährigen Geschichte zusammen. Die Ereignisse bis zum Putschversuch23. August 1989Menschenkette zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 durch alle drei baltischen Sowjetrepubliken als Demonstration für die Unabhängigkeit von der UdSSR.13. November 1989Estland erklärt seine Selbstständigkeit.11. März 1990Litauen verkündet seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion.15. März 1990Gorbatschow wird zum ersten Präsidenten in der Geschichte der UdSSR gewählt.3. Mai 1990Unabhängigkeitserklärung Litauens.29. Mai 1990Boris Jelzin setzt sich bei der Wahl zum russischer Parlamentspräsidenten gegen Alexander Wlassow durch, den Kandidaten Gorbatschows.Anfang Juli 1990Der XXVIII. KPdSU-Parteitag - es soll der letzte sein - bestätigt Gorbatschows Reformprogramm.Mitte Juli 1990Beim Kaukasus-Treffen mit Kanzler Kohl stimmt Gorbatschow überraschend einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands nach der Wiedervereinigung zu.15. Oktober 1990Gorbatschow wird der Friedensnobelpreis 1990 zuerkannt.17. Dezember 1990Der Kongress der Volksdeputierten billigt die von Gorbatschow vorgeschlagenen Verfassungsänderungen, u.a. wird in Artikel 6 der Passus zur führenden Rolle der KPdSU gestrichen.17. März 1991Bei einem landesweiten Referendum sprechen sich 76 Prozent für den Erhalt der UdSSR aus.24. April 1991Gorbatschow einigt sich mit den Unionsrepubliken auf Grundzüge eines neuen Unionsvertrages.31. Juli 1991Gorbatschow und US-Präsident Bush unterzeichen den START-II-Vertrag. Anfang 1992 präsentierte sich der Welt ein absolut neues Russland. Genauer gesagt, seine Führung, eingehüllt in die Toga einer »neuen Ideologie«, erweckte diesen Eindruck und war bestrebt, Teil der Weltgemeinschaft zu werden. Nur klafften Anspruch und Wirklichkeit in frappierender Weise auseinander. Präsident Jelzin - Zerstörer des sowjetischen Kommunismus und nach eigenem Urteil Russlands Demokrat Nr.1 - pflegte genau jenen obskuren Byzantinismus, den auch die einstige kommunistische Nomenklatura zu schätzen wusste. Er nannte sich - halb im Scherz, halb im Ernst - »Zar Boris« und regierte mit einem Hang zu willkürlichen Entscheidungen. Seine Originalität als »Zar« wie auch seine historische Leistung bestanden darin, demokratische Institutionen geschaffen, die Pressefreiheit gesichert und eine kommunistische Opposition zugelassen zu haben. Ansonsten besaß er einen fabelhaften politischen Instinkt und ein eben solches Gespür für die Launen des Zeitgeistes.Es fällt schwer, Jelzins präsidiales System als demokratische Ordnung zu bezeichnen. Nach wie vor wurde über das Schicksal des Landes von einem kleinen Zirkel Auserwählter entschieden. Das äußerte sich in besonders krasser Weise bei Jelzins Anlauf für eine zweite Präsidentschaft. Im Frühsommer 1996 hatten die wichtigsten Galionsfiguren der neuen »Elite« - ungeachtet einer extrem niedrigen Popularitätsrate Jelzins, die zunächst bei fünf Prozent lag - dank geschickter Manipulation dafür gesorgt, dass die Wahlen den gewünschten Ausgang nahmen. Im Ergebnis fiel die junge, noch absolut unreife Demokratie erst recht in die Hände einer allmächtigen Oligarchie.Putins MissionWladimir Putin, der Boris Jelzin Ende 1999 ablöste, verkörpert heute - nach einer Ära, die mit dem Augustputsch begann - die Rückkehr der Vernunft. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, dass der Nachfolger, einst von der allmächtigen Entourage seines Vorgängers (darunter Oligarchen wie Boris Beresowski und Wladimir Gussinski) ausgewählt, zwischenzeitlich seine früheren Paten mitleidlos in die Schranken gewiesen hat. Konsequenz: Die russische Oligarchie ist nach wie vor stark, aber nicht mehr allmächtig wie noch 1999.Der wichtigste »Leistung« Boris Jelzins im Dienste der nationalen Ökonomie bestand in der Tolerierung eines archaischen Kapitalismus, ungezügelter Korruption und der totalen Vernichtung sozialer Schutzmechanismen für die Bevölkerung. Das hat zu einer eklatanten Glaubwürdigkeitskrise der Politik geführt, so dass zwischenzeitlich der Begriff »Demokrat« für nahezu 80 Prozent der Russen eine Entwertung erfahren hat, die vor einem Jahrzehnt - nach der Abwehr des Staatsstreichs - noch undenkbar schien. Bis heute - über 18 Monate nach dem Abgang Jelzins - erweist sich dessen Machtkartell aus unkontrollierbarer Bürokratie und Filz als ausgesprochen veränderungsresistent. Erst nach und nach kann unter diesen Umständen die Politik Putins dazu führen, dass Russland transparenter und sozial gerechter wird, dass jene evolutionären Entwicklungen wieder aufgenommen werden, die vor einem Jahrzehnt unterbrochen wurden. Ungeachtet aller Enttäuschungen heißt das für eine Mehrheit auf keinen Fall Rückkehr zum Kommunismus. Auch in dieser Hinsicht hängt von Putin ungemein viel ab. Er muss zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion Reformen durchsetzen, die eine Phase der Zerrüttung beenden und zugleich das marktwirtschaftliche Fundament der Ökonomie nicht in Frage stellen, er muss dafür sorgen, dass die soziale Balance der russischen Gesellschaft nicht in irreparabler Weise zerstört wird.Der Autor ist Moderator der Sendung Postscriptum im III. Kanal des Russischen Fernsehens (TV-Zentr), er war 1988-1991 Textschreiber und Mitglied des Beraterstabs von Michail Gorbatschow.