Nicht jede Bibliothek kann mit altertümlichen chinesischen Manuskripten neben Postkarten von Sarah Bernhardt, zerknitterten irakischen Zeitungen neben Karten der Neuen Welt oder Handschriften von Rabelais neben den Tonaufnahmen eines 101 Jahre alten Sklaven namens Fountain Hughes aufwarten. Aber die World Digital Library (WDL) ist auch nicht irgendeine Bibliothek. Als „intellektuelle Kathedrale“ des Internet gefeiert, findet man hier einige der größten Schätze der Menschheit versammelt.
Wenn die Bibliothek in diesem Monat in der Pariser Unesco-Zentrale offiziell eröffnet wird, werden Besucher der Seite wie durch eine digitale Glasscheibe zehntausende Kulturgüter aus so verschiedenen Ländern wie Schweden, Saudi Arabien oder Südafrika betrachten und studieren können.
Vier Jahre nachdem der Bibliothekar der Kongress-Bibliothek in Washington die Idee anregte, haben die Kuratoren die erste Stufe zum Aufbau einer wirklich globalen Bibliothek erklommen. Angesichts des kostenlosen Zugriffs auf alle Inhalte und der Übersetzung der Texte in sieben Sprachen geht man davon aus, dass die Seite von großem pädagogischen Nutzen sein wird.
„Wir hoffen, dass dieses Projekt die Kulturen zusammenbringt, ein besseres Verständnis anderer Kulturen befördert und in einer Welt, in der Lesen und Gelehrsamkeit im Wettbewerb mit den neuen, permanent verfügbaren Medien stehen, auch pädagogische Anwendungsmöglichkeiten bietet“, sagt John Van Oudenaren, der Leiter des Projekts.
In Zusammenarbeit mit führenden Institutionen aus der ganzen Welt, einschließlich der britischen Wellcome Collection, Kuratoren der Unesco und der Bibliothek des amerikanischen Kongresses wurde versucht, ein geographisch so großes Gebiet wie möglich abzudecken – ein Ziel, das dort an seine Grenzen stößt, wo in vielen Ländern große Teile des kulturellen Erbes noch nicht digital erfasst sind.
„Es handelt sich um einen langfristigen Prozess“, sagt Van Oudenaren. „Im Augenblick haben wir zweiunddreißig Partner, im Prinzip könnten es hunderte sein. Am liebsten würden wir mit Kulturinstitutionen in jedem Land der Erde zusammenarbeiten, denn nur so könnten wir eine echte Weltbibliothek werden.“
Der Mittlere Osten spielt eine bedeutende Rolle. Die Nationalbibliothek und die Archive des Irak steuern unter anderem eine Sammlung vergilbender Zeitungen und Magazine aus dem 19. und 20. Jahrhundert bei, die in Arabisch, Englisch, Kurdisch und ottomanischem Türkisch geschrieben sind. Die saudi-arabische König Abdullah-Universität und die Katar-Foundation sind ebenfalls beteiligt.
Die Bibliotheca Alexandrina, die in Sachen Digitalisierung bereits eine Führungsrolle einnimmt, steuert Bände und Bildtafeln der Description de l'Égypte (Beschreibung Ägyptens) bei, einem von französischen Gelehrten während Napoleons militärischem Streifzug in das Land im Jahr 1798 verfassten wissenschaftlichen Werk.
Dr. Sohair Wastawy, Chefbibleothekarin der Bibliotheca Alexandrina glaubt, dass die WDL zu einem wirkungsvollen Mittel kultureller Annäherung werden könnte. „So viele der gegenwärtigen Probleme zwischen dem Westen und der arabischen Welt sind aus mangelndem Verständnis entstanden. Dieses Projekt wird uns ermöglichen zu zeigen, wo wir herkommen. Das wird den Dialog anregen.“
Wenn sie ihrer Bestimmung gerecht werden soll, darf die WDL nach Ansicht von Beobachtern ihre Arbeit nicht als Konkurrenz zu anderen vergleichbaren Online-Projekten betrachten. Ihr Ziel ist es, das Beste jedes einzelnen Landes auszustellen. Die französische Nationalbibliothek hat beispielsweise eine Auswahl zusammengestellt, die unter anderem ein Manuskript mit Malereien Jean Fouquets, frühe Filme der Brüder Lumière und eine Aufnahme der Marseillaise von 1898 enthält. Die Londoner Wellcome Collection steuert eine Sammlung anatomischer Zeichnungen und wissenschaftlicher Texte bei, die unter anderem auch Francis Cricks erste Zeichnung der DNA-Doppelhelix enthält.
Um die nötige Qualität garantieren zu können, die Vorrang vor der Quantität haben soll, ist Geld erforderlich. Bislang wurde das mehrere Millionen Dollar schwere Projekt von privaten Spenden von Unternehmen wie Google oder Microsoft finanziert. Beobachter fürchten, dass die weitere Bereitstellung der benötigten Mittel sich als problematisch herausstellen könnte. Van Oudenaren ist indes der Überzeugung, dass die Entscheidung für die private Finanzierung die richtige war: „Wir wollten damit nicht die Regierungen belasten ... Schon gar nicht in der gegenwärtigen Situation.“
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Kurzhinweis
Bei der World Digital Library handelt es sich um das letzte einer Reihe von Projekten zur Kulturdigitalisierung. Im November vergangenen Jahres ging die EU mit der Seite Europeana online, die mit Millionen Büchern, Kunstwerken, Manuskripten, Karten sowie Film-, Audio- und Videomaterial aus Bibliotheken und Galerien verschiedener europäischer Länder in digitalisierter Form aufwartet. Die Webseite erfreute sich so großer Beliebtheit, dass sie gleich am Tag ihrer Premiere abstürzte und offline genommen werden musste. Inzwischen läuft sie aber wieder. Derzeit sind dort Artefakte aus rund 1.000 Institutionen zu sehen, im Jahr 2010 soll die Zahl der Exponate dann auf zehn Millionen gestiegen sein.
Im Januar digitalisierte der Madrider Prado vierzehn besonders beliebte Bilder und stellte sie in einer Auflösung ins Internet, die 14.000mal höher war als die eines normalen Digitalfotos. Die British Library hat gerade über tausend Stücke klassischer Musik digitalisiert und Internet-Nutzern zur Verfügung gestellt.
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Übersetzung: Holger Hutt
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