Globalisierung à la carte: Wie der Westen den Welthandel gerne hätte
Wirtschaft Zuerst verordneten die Industrieländer den Entwicklungsländern die totale Öffnung der Märkte. Jetzt träumen sie von einer selektiven Globalisierung ganz nach eigenen Werten und Wünschen. Das ist naiv und gefährlich
Frank-Walter Steinmeier war jüngst Lula da Silva besuchen – doch mehr als nette Gesten hatte er nicht dabei
Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty Images
Die Globalisierung ist ins Gerede gekommen. Man wolle nicht mehr so abhängig sein, sagen viele. Man könne in Zukunft nicht ohne Weiteres auf die Effizienzgewinne der Globalisierung bauen, sagen andere. Man müsse alle wichtigen Produkte auch zu Hause herstellen können, glauben die meisten. Nur bei den Rohstoffen, die man selbst nicht hat, wolle man die Märkte unbedingt offen halten.
Globalisierung à la carte ist das, was sich viele Politiker in den Industrieländern wünschen. Der totalen Globalisierung, die der Globale Norden dem Globalen Süden in den 1990er Jahren angeboten hatte, folgt die selektive Globalisierung, bei der jeder darauf achtet, nicht abhängig zu werden.
Man fragt sich, nach welchen Regeln die Selektion erfolgen soll. Totale Of
n soll. Totale Offenheit, das Prinzip der freien Märkte, war einfach. Selektive Offenheit dagegen ist kompliziert, und es existiert keine Institution, die bereit und in der Lage wäre, die Verhandlungen zu einer solchen Globalisierung zu moderieren. Hinzu kommt die einfache Frage, wer die Partner bei der selektiven Globalisierung sein sollen. Die Entwicklungsländer haben erlebt, dass schon die freien Märkte keineswegs so segensreich für sie waren, wie ihnen von allen Seiten versprochen worden war.Der brasilianische Präsident Lula da Silva etwa hat in seinen beiden ersten Amtszeiten (2003 – 2011) erfahren müssen, dass ihm die Offenheit der Märkte, die der Norden erwartete, massiv auf die Füße gefallen ist. Bei offenen Kapitalmärkten wurde die brasilianische Währung zum Spielball von Spekulanten und wertete über einen Zeitraum von zehn Jahren so stark auf, dass die brasilianische Industrie im internationalen Standortwettbewerb enorm an Boden verlor. Leistungsbilanzdefizite und Arbeitslosigkeit waren die Folge. Die anschließenden Abwertungswellen kamen zu spät, um Brasilien über den internationalen Handel wieder hinreichend positive Impulse zu vermitteln. Stattdessen kämpfte Brasilien mit hohen Preissteigerungsraten. Dieser Cocktail aus katastrophalen makroökonomischen Rahmenbedingungen bereitete der rechten Regierung Jair Bolsonaros den Boden.Lulas Brasilien zum BeispielVon einem „Währungskrieg“ sprach die zweite Regierung unter Lula da Silva damals. Hätte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem kürzlichen Besuch in Brasília Lula die Bereitschaft der Bundesregierung mitgebracht, sich im Rahmen der G7 und in Europa für ein monetäres Rahmenwerk einzusetzen, bei dem Spekulation mit Währungen keine Chance mehr hat – der warme Händedruck zur Gratulation für Lulas dritte Amtszeit wäre von einer substanziellen Hilfe begleitet gewesen.Doch daran ist gar nicht zu denken. Deutschland und Europa sind stolz auf ihre Währungsunion und den Binnenmarkt, verschwenden aber keinen Gedanken an eine vernünftige globale Ordnung der Finanzwelt. Die USA und Großbritannien sind strikt gegen jede Änderung, weil die Wall Street und die Londoner City mit der Spekulation gut verdienen. Hinzu kommt, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) im Auftrag der USA und Europas den Entwicklungsländern aller Kontinente Neoliberalismus verordnete, sobald ein Land in Schwierigkeiten geraten war. Lateinamerikaner und Afrikaner können viele Lieder davon singen, wie die IWF-Rezepturen regelmäßig scheiterten und zu immensen politischen Verwerfungen führten.Folglich ist schon der „freie“ Handel mit offenen, zu Spekulation einladenden Finanzmärkten im Rahmen des IWF-Regimes eine Mogelpackung für die Entwicklungsländer. Wer kann da erwarten, nur einen Jota Bereitschaft im Rest der Welt zu finden, sich auf selektiven Warenhandel unter den Bedingungen freier Kapitalmärkte einzulassen, bei dem ausgerechnet die Rohstoffe von Selektion ausgenommen sind?So einfach wird die Globalisierung à la carte nicht zu haben sein. Gerade Deutschland mit seinem enorm großen Exportsektor und seinen ungerechtfertigten riesigen Leistungsbilanzüberschüssen ist der Elefant im Porzellanladen. Niemand hat mehr zu verlieren, wenn das fragile globale System kollabiert. Wer Änderungen will, muss konstruktive Vorschläge machen, die den Entwicklungsländern weit entgegenkommen, und darf nicht allein auf den eigenen Vorteil bedacht sein.Die Welt braucht 50 Jahre nach dem Ende von Bretton Woods wieder ein globales Wirtschafts- und Währungssystem, das auf der Erkenntnis aufbaut, dass Handel und Finanzen nicht voneinander zu trennen sind. Unternehmen, die im internationalen Handel erfolgreich agieren wollen, müssen sich, nicht anders als auf der nationalen Ebene, absolute Vorteile gegenüber Konkurrenten erarbeiten. Sie müssen, unter Berücksichtigung der Qualität, billiger sein. Die von Ökonomen seit Jahrhunderten hochgehaltenen komparativen Kostenvorteile im Welthandel sind eine Schimäre.Was für Unternehmen gilt, gilt jedoch nicht für Länder. Sind viele Unternehmen eines Landes erfolgreich im Sinne einer Zunahme der Produktivität, müssen unter vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Löhne in dem Land so stark steigen, dass der Produktivitätsvorteil im internationalen Vergleich nicht mehr zugunsten der Unternehmen dieses Landes zu Buche schlägt. Bei höherer Produktivität steigen die Lohnstückkosten dann genauso stark wie in anderen Ländern, die eine geringere Produktivitätszunahme aufweisen.Steigen die Löhne im Verhältnis zur heimischen Produktivität zwischen Ländern in unterschiedlichem Tempo, ergeben sich Inflationsdifferenzen, die absolute Vorteile für ganze Länder mit sich bringen, nämlich für diejenigen, die die geringsten Inflationsraten aufweisen. Die Inflationsdifferenzen müssen deshalb zwingend durch das Währungssystem ausgeglichen werden.Die Währungen von Ländern mit niedrigen Inflationsraten müssen aufwerten und umgekehrt. Konstante reale Wechselkurse, also konstante Wettbewerbspositionen von Ländern, sind der Kern der Lösung der Globalisierungsprobleme. Standortwettbewerb von Ländern ist genau das Gegenteil dessen, was die Welt braucht. Die Positionen von Unternehmen können sich auch bei konstanten realen Wechselkursen in der gleichen Weise ändern wie in einem Binnenmarkt, sodass die Vorteile des Wettbewerbs erhalten bleiben, ohne dass ganze Gesellschaften in den Ruin getrieben werden und Auswanderungswellen nach sich ziehen.Die Welt braucht folglich ein Handelssystem, das von einem Währungssystem ergänzt wird, welches dafür sorgt, dass kein Land auf Dauer absolute Vorteile oder Nachteile hat. Was heißt, dass kein Land dauerhafte Leistungsbilanzdefizite und keines dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen darf. Nur so kann man einen Neuanfang schaffen, der auf Integration der Entwicklungsländer und auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt.Was die Klimakonferenz zeigteDie Einstellung der Industrieländer zu den Entwicklungsländern muss sich fundamental ändern. Standortwettbewerb ist so fehl am Platz wie die in den internationalen Organisationen stets virulente natürliche Gegnerschaft zwischen dem Norden und dem Süden. Kein Diplomat des Nordens, der nicht davon ausginge, dass die Entwicklungsländer die Gegenspieler seines eigenen Landes sind. Das sind Formen des geistigen Kolonialismus, die es dringend abzustellen gilt.Die jetzt von der deutschen Außenpolitik entdeckte Rivalität mit China passt überhaupt nicht zu einer kooperativen Strategie. Wer China leichtfertig zum Rivalen erklärt und von der regelbasierten Ordnung mit den nördlichen „Wertepartnern“ fabuliert, hat die Chance schon verpasst, mit den Entwicklungsländern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Das gilt auch und gerade in Sachen Klimakooperation. Die Ergebnisse der jüngsten Weltklimakonferenz in Ägypten belegen, wie wenig der Westen bereit ist, sein Handelsmodell zugunsten der ärmeren Teile der Welt zu verändern und sein Herrschaftsintrumentarium zu reduzieren, obwohl das im Interesse auch seiner zukünftigen Generationen ist. Die Einrichtung eines Fonds zum Ausgleich klimabedingter Schäden in Ländern, die besonders von der Klimakrise gefährdet sind, spricht Bände – über seine unverbindliche Finanzierung und unklare Ausschüttungspolitik hinaus: Was nicht eingerichtet wurde, ist ein Fonds, um grüne Technologien und entsprechendes Know-how weltweit preiswert zur Verfügung zu stellen und so potenzielle Schäden von vornherein zu verhindern oder wenigstens zu verringern. Das würde obendrein die Produzenten fossiler Rohstoffe unter den Druck sinkender Nachfrage setzen und die Erschließung und Ausbeutung neuer fossiler Lagerstätten erschweren. Warum geschieht das nicht?Im Westen träumt man davon, an der Technologieführerschaft in Sachen klimafreundlicher Produktion so gut zu verdienen, dass man den gewohnten Wohlstand aufrechterhalten kann, während man den Strukturwandel hin zu Klimaneutralität bewerkstelligt. Also will man diese Kenntnisse nicht preiswert oder gar kostenlos verbreiten, erwartet aber gleichzeitig, dass sich ärmere Länder verbindlich zu CO2-Reduktionszielen verpflichten. Wieso sollten sich Entwicklungsländer, die nicht die Hauptverursacher, sehr wohl aber die Hauptleidtragenden des Klimawandels sind, auf eine solche geradezu kolonialistische Zwangsjacke einlassen? Sie müssten die teure westliche Technologie mit ihrer billigen Arbeitskraft erkaufen, wozu sie in für den Klimaschutz ausreichendem Maße obendrein kaum in der Lage sein dürften.Eine tatsächlich erfolgreiche, über Symbolpolitik und moralisch grüne Westen hinausgehende internationale Klimaschutzpolitik wird der Lackmustest für eine in Zukunft fair gestaltete Globalisierung sein. Der Westen ist aufgefordert, seinen warmen Worten zur Unterstützung von Demokratie, Menschenrechten und Klimaschutz Taten folgen zu lassen.Placeholder authorbio-1
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