Viele Zeitungen haben auf den Wahlkampfauftakt der SPD zur "Mitte in Deutschland" eher gelangweilt reagiert. Zugegeben, Münteferings Bauchladen der Mitte, die rot sei, von "Beschäftigung sichern und schaffen" bis "Zukunftschancen eröffnen", strahlt den Charme einer Aktenablage aus. Und in der Schriftfassung der Rede des Spitzenkandidaten finden sich Spitzensätze wie der folgende: "Wer die Mitte durcheinander wirbelt, erlebt schlimme Tragödien." Doch womöglich wendet sich die schreibende Zunft voreilig enttäuscht ab und übersieht die Un-Tiefen des Mitte-Diskurses. Was will man mehr erwarten in einer ersten Phase des Wahlkampfes, in welcher die Werbemanager der Partei bestimmt keine Zuspitzung anempfehlen, die doch immer erst für die letzte Phase
se geplant ist. Was macht die Lage aus? Deutschland ist aus der Finanzklemme der Einheit noch nicht heraus und rutscht bereits in die nächste, größere, die Einheit Europas betreffende. Über den Aufschwung, der demnächst komme, wurde schon zu häufig fabuliert. Die beiden großen Säulen im Regierungspalast - Arbeit und Kapital - wackeln bedrohlich. Die Arbeitslosigkeitsverwaltung skandalisiert, und das größte Risikokapital im Lande hat sich verspekuliert, so dass Kanzler und Herausforderer gemeinsam anpacken müssen, damit der Kirch im Dorf bleibt. Schröder hat Kohl mit dem Knopf "Wirtschaftskompetenz" vom politischen Bildschirm geklickt, Stoiber will an der gleichen Stelle klicken. Der tut der SPD auch nicht den Gefallen, als Franz Josef II. mit der Tür ins Haus zu fallen, eher kommt er als eine Art bajuwarischer Helmut Schmidt daher, der gegen das Provinzialismus-Ressentiment auf überregionalem Parkett mit trockener, sachlicher Schärfe anarbeitet. Die Union ist wieder da, sagen die modernen Orakel. Angesichts dieser Ausgangslage könnte der Slogan Die Mitte ist rot als schwacher Versuch gedeutet werden, den Bayern nun doch zu einem populistischen Ausfallschritt zu provozieren, um die politische Mitte dann umso überzeugender besetzen zu können. Oder tappt die SPD gar in die von Union und FDP groß und breit aufgestellte "rote" Falle, wo ihr die PDS ohnehin schon tagein, tagaus als Koalitionär angedichtet wird? Weder noch. Die Lage für die SPD ist kompliziert. Objektiv gesehen hätte Schröder den Wahlkampf mit einer "Ruckrede" eröffnen müssen, hätte er auch nur einen Teil der Zumutungen nennen wollen, mit welchen eine Gesellschaft der nachhinkenden Neoliberalisierung in den nächsten Jahren zu kämpfen haben wird. Der einschlägige Hintergrundsatz zu diesem Thema stammt von Tony Blairs Berater Anthony Giddens: "Auf der Insel hatte New Labour das Glück, auf den Reformen des Thatcherismus aufbauen zu können." Na, dann Glück auf, SPD! In dieser Richtung einer möglichen Zuspitzung ist Stoiber bereits unterwegs. Die entgegengesetzte Richtung einer möglichen Linksprofilierung einzuschlagen, was in der SPD niemand will, verhindert die PDS mehr als Bündnisgrün. Wo anders also als in der Mitte, wo sich schon alle auf den Füßen stehen, fände die SPD nach Lage der Dinge Bewegungsraum? Allerdings stehen sich die Sozialdemokraten bei diesem Versuch auch noch selbst im Weg. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob der Kandidat einer irgendwie als links geltenden Partei wie im Jahr 1998 mit der Neuen Mitte eine Mitte-Rechtsregierung ablösen will, oder ob derselbe als Kanzler eine zur Mitte gewordenen Partei gegen einen Mitte-Rechts-Herausforderer an der Regierung halten will. Damals konnte die Metapher der "Mitte" so verstanden werden, dass jenes "Bündnis aus Arbeiterschaft und aufgeklärtem Bürgertum" (Schröder) erst einmal hergestellt werden sollte. Ob die "rote Mitte" heute so verstanden wird, dass am 22. September ein Bündnis aus Arbeiterschaft und - was sonst? - unaufgeklärtem Bürgertum verhindert werden müsse? Auf der Suche nach etwas Rotem im Diskurs Gerhard Schröders stößt man lediglich auf eine Einladung an die 68er-Linken, in der Mitte Platz zu nehmen, den sie sich "oftmals durch Aufbegehren gegen Autoritäten" erkämpft hätten. Überhaupt enthält der Diskurs der "roten Mitte" auffällig wenig Abgrenzungen, dafür viele Eingrenzungen. Wer da noch alles versammelt werden soll! Hier die Stichworte mit ihren Gefolgschaften: Da sind die "kleinen Leute", die vom Rand in die Mitte der Gesellschaft streben; natürlich die Gegner von jeglichem Extremismus; und die gutmütigen Kapitalisten der sozialen Marktwirtschaft; die Mitte soll für die Krisengebeutelten ein Ort der Stabilität, für die Grünen eine Garantie der Nachhaltigkeit sein; für die Spießer bedeutet sie Sicherheit als Bürgerrecht, und für die wachsende Ying-und-Yang-Gemeinde, Mediator beim Seilakt hoch über dem Abgrund der Globalisierung, die große Balance zwischen Flexibilisierung und Schutzinteressen der Arbeitnehmer, zwischen "fordern und fördern". Fehlt wer? Ja, der Angreifer, der nur stören, destabilisieren und Panik verbreiten kann. Attac und Stoiber, sozusagen. Wir greifen nicht an, wer angreift, schließt sich aus und verliert - ist das die Botschaft der "Mitte"? Angriffsverbot als Radikalisierung der Mitte. Jedoch, Ausgleich und Versöhnung predigen, während draußen Krieg geführt wird und es drinnen immer ungemütlicher wird, - wer wird daran glauben? Je weniger Menschen in der Mitte Platz nehmen können, desto heftiger soll diese beschworen werden. Die Politik stützt sich eben nicht nur auf die normative Kraft des Faktischen, sondern mobilisiert auch die mythische Kraft des Kontrafaktischen. Helmut Kohl hat damit, zum tiefen Unverständnis seiner Gegner, mehr als ein Jahrzehnt überbrücken können. Man kennt das aus der Familiensoziologie: je mehr die Normfamilie verschwindet, desto mehr wird sie von Werbung und Politik gefeiert. Und damit sind wir doch beim Thema. Woran denkt man in Deutschland mehr, wenn es um die Mitte geht, als an die Familie? Kein Zufall, dass sich alle Parteien im Wahlkampf auf dem Schauplatz Familie tummeln. Vielleicht bildet sie den Kern der unangreifbaren Mitte.
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