Natürlich war die Freude groß, als Anfang des Jahres angekündigt wurde, dass die 22. Ausgabe von goEast, dem Festival des mittel- und osteuropäischen Films, nach zweijähriger pandemiebedingter Onlineexistenz wieder als Präsenzversanstaltung in Wiesbaden stattfinden wird. Die Freude wurde jedoch schnell vom russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 überschattet.
Die aktuellen Kriegshandlungen und die damit verbundene Propaganda haben seither zu extremen Spaltungen in den Gesellschaften geführt, nicht nur in der slawischen Welt und nicht nur in Osteuropa. Medien aus aller Welt sind an der Schlacht beteiligt. Schnell kam die Idee eines Boykotts gegen Russland auf. Und damit war immer öfter nicht nur ein Boykott der russischen Wirtschaft und Administration gemeint, sondern auch ein Boykott der russischen Kultur.
Keine inhaltliche Kritik
Vor diesem recht komplizierten Hintergrund verlief die letzte Festivalvorbereitungsphase, die das ganze Team extrem herausgefordert hat. Festivalleiterin Heleen Gerritsen berichtet, dass sich goEast direkt nach der Kriegseskalation entschieden habe, nicht mit staatlichen russischen Organisationen zusammenzuarbeiten, auch nicht mit dem staatlichen Filmarchiv. Es sei „unvorstellbar, das russischen Doppeladlerwappen auf der goEast-Leinwand laufen zu lassen“, so Gerritsen. Es mussten Filme aus dem Programm gestrichen werden. Als dann aus der Ukraine die pauschale Boykottforderung für alle russischen Filme aufkam, wurde die Lage noch schwieriger – und der Ton rauer. Gerritsen, eine Holländerin mit Verbindungen im gesamten Osten Europas, wurde in den sozialen Medien in beispielloser Art und Weise dafür angefeindet, dass das Festival sich angeblich nicht darum bemühe, wirklich alle Filme mit russischer Beteiligung zu verbannen.
Dabei sah sich das Festival goEast noch nie als Sprachrohr für nur eine einzelne Nation, im Gegenteil stellte das Auffächern der Vielfalt von Osteuropa stets eines der Hauptziele in Wiesbaden dar. Deswegen muss dem Festivalteam die Entscheidung sehr schwer gefallen sein, russische Filmemacher darum zu bitten, ihre Filme zurückzuziehen. Davon betroffen waren Aleksey German Jr. (House Arrest) und Lyubov Mulmenko (The Danube), deren Filme im Wettbewerb hätten laufen sollen, sowie Ekaterina Selenkina (Detours) in einer Nebensektion. Man muss hervorheben, dass die Filme keineswegs inhaltlich in der Kritik standen. Im Gegenteil: House Arrest handelt vom Hausarrest eines Professors, der etwas gegen die herrschenden Autoritäten zu sagen wagte; in Danube will eine junge introvertierte Russin ein neues, freieres Leben im serbischen Belgrad beginnen. Und Detours schließlich folgt in meditativen Aufnahmen einem Drogenhändler durch die dunklen und verwahrlosten Ecken von Moskau. Das sehr junge Team von Detours, das zu den Gründern des 2016 ins Leben gerufenen Moscow International Experimental Film Festival gehört, hat den Krieg in einem Statement explizit verurteilt. Man darf davon ausgehen, dass die Rücknahme des eigenen Werks vom Festival für die jungen Filmemacher sehr schmerzhaft ist, besonders nach der coronabedingten zweijährigen Kommunikationspause mit dem Publikum.
Im Programm geblieben sind ein Kurzfilm und ein Spielfilm aus Russland sowie zwei Koproduktionen, die alle ohne staatliche Förderung realisiert wurden. Wobei im Fall des Wettbewerbsbeitrags Nuuccha von Vladimir Munkuev die Thematik auch eine Rolle gespielt haben dürfte: Der Film spielt im Sibirien des 19. Jahrhunderts und ist ein „Kolonialdrama“, in dem ein jakutischer Ehemann erleben muss, wie er von einem russischen Sträfling verdrängt wird; er nimmt sich am Ende das Leben.
Die der großen georgischen Regisseurin Lana Gogoberidze gewidmete Retrospektive wurde glücklicherweise nicht problematisiert, handelt es sich bei ihrem Schaffen doch größtenteils um sowjetisches Filmerbe. Die 93-jährige Regisseurin selbst meinte zum Boykott russischer Filme, dieser sei als Mittel zum Zweck „eventuell nützlich“ und deshalb positiv zu bewerten. Sowohl sie als auch der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, der mit seinem Film Babyn Jar. Kontext im Wettbewerb vertreten war, hatten übrigens keinerlei Hemmungen, auf Russisch zu kommunizieren.
In einem weiteren Versuch, den Schmerz der ukrainischen Seite zu lindern, lud das Festival außerdem zu einem Panel ein, bei dem ukrainische Teilnehmer*innen den Boykottaufruf gegen russische Filme, den die ukrainische Filmakademie am 26. Februar ausgesprochen hatte, zu erläutern versuchten. Die Vertreter*innen kultureller Institutionen und Filmschaffende aus der Ukraine diskutierten über eine anstehende Neubewertung russischer Filme im Allgemeinen und im Speziellen über die Frage, ob das sowjetische und das russische Kino nicht eine Tendenz dazu aufweise, imperiale und rassistische Vorurteile zu verfestigen. Und der Umgang mit oppositionellen Filmschaffenden aus Russland? Eine ukrainische Regisseurin äußerte den Wunsch, dass russische Filmemacherin*innen auch anfangen sollten, Ukrainisch zu lernen. Eine andere Teilnehmerin meinte, wenn man möchte, dass in zwei Jahren ukrainische Filme gezeigt werden, möge man bitte deren Produktion jetzt unterstützen. Nach ihrer Meinung zum Boykott gefragt, äußerte die bulgarische Filmkritikerin Mariana Hristova, Stammgast in Wiesbaden, noch andere Bedenken. Seit dem Ende des Kalten Krieges werde die slawische Kultur systematisch von der angelsächsischen Kultur verdrängt, sogar auf ihrem eigenen Territorium. In diesem Sinne erweise eine Sanktionierung der russischen Kultur keiner slawischen Kultur, auch nicht der ukrainischen, einen guten Dienst, auch wenn das in diesem kritischen Moment schwer zu vertreten sei.
Loznitsa zu „kosmopolitisch“
Wie komplex die Situation ist, zeigt das Beispiel des bereits erwähnten ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa. Bereits am 28. Februar hatte er seinen Austritt aus der Europäischen Filmakademie bekannt gegeben, weil ihm ihre Stellungnahme nach Kriegsausbruch nicht entschieden genug war. Wenige Wochen später wurde er kurioserweise seinerseits aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, Begründung: seine „kosmopolitische“ Haltung. Geboren in Belarus und aufgewachsen in Kiew, hat Loznitsa sich immer als ukrainischen Regisseur gesehen. Nach seiner Meinung zum Boykott russischer Kultur gefragt, erwiderte er irritiert: „Warum muss man ständig die russische Macht mit der russischen Kultur verwechseln? Meiner Meinung nach ist das eine absolute Dummheit, denn diejenigen, die in die Ukraine einfallen und ukrainische Bürger töten, haben mit der russischen Kultur überhaupt nichts zu tun.“ Aus Loznitsas Sicht ist es der russische Machtapparat, der boykottiert werden müsse. Warum überhaupt diese Rhetorik, frage er sich. Es scheine ihm inakzeptabel, Menschen anzufeinden, die in Russland leben, mit dem Regime nicht einverstanden sind und durch ihre Arbeit versuchen, dieses zu bekämpfen. In ihnen sehe er vielmehr Verbündete. Sein eigener Ausschluss aus der Ukrainischen Filmakademie habe ihn erschüttert. Das Statement, das er im Anschluss dazu veröffentlichte, habe ihm Sympathien, aber auch viele hasserfüllte Reaktionen von ukrainischer Seite eingebracht.
Loznitsa beklagt auch, dass es gar keinen kulturellen Dialog zwischen Russland und der Ukraine mehr gebe. Dabei sei Kultur doch kein Gut, das man einfach abschalten und dann wieder per Knopfdruck aktivieren könne. Thema seines Films Babyn Jar. Kontext ist im Übrigen das Massaker im Stadtgebiet von Kiew, bei dem nationalsozialistische Einsatzgruppen und ukrainische Beamte im September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Loznitsa hat eine audiovisuelle Bearbeitung des Materials aus deutschen, russischen und ukrainischen Archiven vorgenommen, um den Kontext der damaligen Ereignisse zu erläutern. Der entstandene Film ist zutiefst verstörend und hat in der Ukraine zu heftiger Kritik geführt, weil er eben auch ukrainische Mittäter und Mitläufer zeigt.
Bei der Vorführung jetzt in Wiesbaden regnete es ebenfalls Kritik in diesem Zusammenhang. Ob Loznitsa sich dessen bewusst wäre, wie der Film im jetzigen Kontext als Propagandamittel verwendet werden könnte? Zu Sowjetzeiten hätte es diesen Film nie geben können. Jetzt kommt er gerade zur richtigen Zeit, um daran zu erinnern, wie man nicht handeln sollte, wenn es ein Morgen geben soll.
Kommentare 3
"Die 93-jährige Regisseurin selbst meinte zum Boykott russischer Filme, dieser sei als Mittel zum Zweck „eventuell nützlich“ und deshalb positiv zu bewerten."
Ich bin sicher, dass ein pauschaler Kulturboykott nicht nützlich ist. Nicht nützlich sein kann.
Losnitza sagt das Richtige!
Freilich sind Boykottaufrufe und die Schmähung derer, die hier nicht folgen wollen, nichts Neues in Kriegszeiten. Deutsche und Österreicher sollten ab 1914 auch z. B. jede französische Kultur verpönen und vice versa. Dass Ukrainer jetzt wenig geneigt sind, sich russischen Kulturprodukten zu nähern, ist nachvollziehbar. Alle anderen sollten hier aber zur Differenzierung fähig sein und dummen Pauschalboykotten russischer Kultur absagen.
Danke für diesen differenzierten Blick auf die Kultur! Losnitza hat natürlich recht, wenn er auch die ukrainischen Mittäter der Judenvernichtung in Babyn Jar zeigt, alles andere wäre Geschichtsverfälschung.
Wenn man das Wort Holocaust hört, denkt man zuerst an die Juden, die durch Nazis getötet wurden. Die Opfer unter der sowjetischen Regierung in den vierziger Jahren werden meistens verschwiegen. Ein Drittel der Juden, die während des Holocaust getötet wurden, wohnten in der Sowjetunion. Anderthalb Millionen sowjetischer Juden wurden durch Nazis getötet und 200.000 sind im Krieg gefallen. Die restlichen Opfer waren Juden unter der sowjetischen Regierung in 1939-40, nach dem Schluss des Hitler-Stalin-Paktes.
Der Antisemitismus auf dem Territorium der Sowjetunion hat schon viel früher angefangen. Markantes Signal für neue Akzente in der Nationalpolitik Stalins war die Auflösung der Jewsekzija und der Parteisektionen anderer Nationalitäten ohne eigenes Territorium im Jahre 1930.
Stalins Standpunkt war: „Die Juden seien vor allem deshalb keine Nation, weil sie keine Bauernschicht hätten. Seine Losung war: „Werdet Bauern, dadurch erwerbt ihr das Recht einer Nation. Der Sowjetstaat bot den Juden „großzügig“ eine Chance, wobei von vornhinein einkalkuliert war, dass ein Scheitern der Agrarisierung und ein Sieg der Assimilierung die „zionistischen“ Bestrebungen ein für allemal diskreditieren würde. (vgl. Lustiger 1998: 78)
Auch nach der Auflösung der Jewsekzii galten Juden innersowjetisch als Nation. Als Inlandspässe eingeführt wurden, trug man jedem Jude - ob er dies wollte oder nicht - seine nationale Zugehörigkeit (jewrej) in die Papiere ein.
„Der Stalinismus schlug also in zweifacher Form auf die Juden ein: jenen, die sich assimilieren wollten, zwang er ein untilgbares Stigma auf, und jenen, die nationale jüdische Formen behalten wollte, wurde dies unmöglich gemacht.“ (Lustiger 1998: 81)
Die jüdische und hebräische Blüte der Kultur und der Literatur in den zwanziger Jahren ging zu Ende. Dichter und Schriftsteller wie Issak Babel, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Eduard Bagrizki, Wassili Grossman, Ilja Ilf wie auch die zeitweise emigrierten Schriftsteller Ilja Ehrenburg, Viktor Schlowski oder Wladislaw Chodasewisch, die Kinderbuchautoren Lew Kassi und Samuil Marschak und die Lyriker Swetlow, Samejlow, Sluzki, Kogan sowie nicht zuletzt der Nobelpreisträger Jossif Brodski haben die russische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts durch große Werke bereichert.
In den Jahren zwischen der Ermordung Kirows 1934 und dem Großen Terror mit den Schauprozessen 1937/38 wurden alle Errungenschaften des kulturellen und gesellschaftlichen Aufschwungs der zwanziger Jahre ausgelöscht. Ein Beispiel dafür ist das „Massensterben“ der Presse in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, selbst zum Teil eigens zur Propagierung der Parteipolitik unter den Juden aufgebaute Zeitungen und Zeitschriften wurden viele Jahre dezimiert. Zug um Zug liquidierten die Organe jüdische Institutionen, Verlage und Kultureinrichtungen. Oft wurden sie geschlossen, weil man alle ihre Mitarbeiter verhaftet hatte. Auch die jiddischen Schulen außerhalb Birobidshans und das Kiewer Institut für Jüdische Kultur fielen diesem Kahlschlag zum Opfer.
Die Judenverfolgungen Ende der dreißiger Jahre basierten nicht auf einer expliziten antisemitischen Propaganda oder Hetze. An den Denunziationen und öffentlichen Angriffen auf die „nationalistischen Abweichler“ beteiligten sich auch jüdische Kommunisten, die trotz ihrer Dienste häufig selbst Opfer der Säuberungen wurden.
Molotow äußerte seine Meinung über Stalin: „ [...] Stalin war kein Antisemit, wie manche bisweilen suggerieren. Er registrierte am jüdischen Volk viele Eigenschaften: Tüchtigkeit, Geschlossenheit, politische Aktivität. Sie sind ganz sicher aktiver als der Durchschnitt. Deshalb gibt es solche, die sehr leidenschaftlich in eine Richtung tendieren, und solche, die leidenschaftlich in die andere gehen.
Zur Zeit Stalins wurde die gesamte Führung des Autonomen Gebiets ermordet. Der Anfang der Vernichtung der jüdischen Kommunisten war der August 1936 – die Tage des Sinowjew-Prozesses. Es kann natürlich niemand genau die Zahlen der unter der Stalindiktatur ermordeten jüdischen Kommunisten nennen. Die bekanntesten ermordeten jüdischen Kommunisten waren: Liberberg, Chawkin, Katel, Gelder, Apschin, Riskin, Ja.Lewin, Schwarzberg, Schweinstein, Guberman, Chasbiski, Lapizki, Idow. Von den 51 Mitgliedern des Gebietskomitees überstanden ganze sechs das Jahr 1937. (vgl. Lustiger 1998: 85)