Es geht um 365 Milliarden Euro. Um Millionen Arbeitsplätze. Um Gesundheit und Wohlergehen von 511 Millionen EU-Bürgern. Außerdem: um Leid oder Leben von Milliarden Schlachttieren, um die natürlichen Ressourcen, Boden, Luft, Wasser und Biodiversität. Kurz: Es geht ums Ganze.
Zur Zeit wird in Brüssel – überwiegend hinter verschlossenen Türen – darüber verhandelt, wie die Europäische Union in Zukunft ihre Landwirtschaft gestalten will. Die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) ist der größte Posten im EU-Haushalt. Bis 2020 läuft die aktuelle Förderperiode, bis dahin müssen sich die Mitgliedsstaaten einig sein, wie sie in Zukunft das viele Geld ausgeben wollen. Und zwar so, dass die Dauerkritik am Br
itik am Brüsseler Subventionstopf ein Ende nimmt. Ebenso die Umweltschäden, das Artensterben, das Tierleid, das Höfesterben und die Landflucht.Doch danach sieht es nicht aus: Die EU-Kommission will auch in Zukunft an den umstrittenen Direktzahlungen festhalten. Jeder Landwirt in Europa bekommt für die Fläche, die er bewirtschaftet, pauschal eine bestimmte Summe Geld ausbezahlt. In Deutschland sind das etwa 300 Euro pro Hektar. Als „Ausgleich für die hohen Standards“, die die Landwirte in Europa einhalten müssen.Hochgradig ineffizientWissenschaftler und Umweltverbände kritisieren diese Direktzahlungen seit langem als Förderpolitik mit der Gießkanne. Die vielen Agrarmilliarden würden einfach so gleichmäßig über die Fläche verteilt – ohne besondere Leistungen von den Empfängern zu verlangen. Ihre Forderung: Das pauschale Geldausschütten, einfach nur dafür, dass ein Landwirt die Gesetze einhält, müsse ein Ende haben. Öffentliches Geld soll es künftig nur noch für öffentliche Leistung geben.Die Landwirte sind es ihrerseits leid, als Dauersubventionsempfänger kritisiert zu werden. Viele sagen, sie würden lieber ordentlich für ihre Arbeit bezahlt werden als immerzu Fördergelder beantragen zu müssen. Doch die stark schwankenden Erzeugerpreise geben ihnen wenig Anlass zur Hoffnung. Vor allem Milchbauern und Sauenhalter haben in den vergangenen Jahren über Monate hinweg so wenig Geld für Milch und Mastferkel bekommen, dass sie ihre Kosten nicht decken konnten. Einige haben sogar Kredite aufgenommen, um das Futter fürs Vieh bezahlen zu können. Die Direktzahlungen sind für sie deshalb ein Rettungsanker auf den stürmischen Weltagrarmärkten.Trotzdem sollten sie abgeschafft werden, fordern der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) und das Europäische Umweltbüro EEB. Die Verbände haben, unterstützt von den Grünen und den Sozialdemokraten im Europaparlament, ein Team von Wissenschaftlern beauftragt, die aktuelle Agrarpolitik auf ihre Schlüssigkeit hin zu untersuchen. Das Ergebnis der Agrarwissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig und der Universität Göttingen: Die Europäische Agrarpolitik wird ihrem Zweck nicht gerecht – weder ökologisch noch sozioökonomisch. Die Umweltverbände kritisieren vor allem die Auswirkungen der Direktzahlungen: Die Verteilung der Zahlungen sei „hochgradig ineffizient“. Bislang profitieren vor allem große Betriebe – unabhängig von der Zahl ihrer Arbeitsplätze – und Bodenbesitzer, die – in Kenntnis der Fördergelder – höhere Pachten verlangen können. Das alles untergrabe die gesellschaftliche Akzeptanz für eine gemeinsame Agrarpolitik als europäisches Projekt.Placeholder infobox-1Im Haushaltsentwurf für die neue GAP hat die Europäische Kommission darauf reagiert: In Zukunft soll es eine Kappung der Zahlungen ab einer bestimmten Betriebsgröße geben, sodass kleinere und mittlere Betriebe mehr profitieren würden als große. Außerdem sollen die einzelnen EU-Mitgliedsländer mehr Spielraum haben; der Verwaltungsaufwand für Landwirte und Behörden solle sich verringern, die Agrarpolitik ergebnisorientierter werden.Wie das genau gehen könnte, darüber wird in den nächsten Monaten heftig gestritten werden. Viele Umwelt- und Bioverbände sind skeptisch, ob sich hinter den Versprechungen wirklich die Förderung einer nachhaltigeren Landwirtschaft verbirgt. Auch vor der letzten Reform hatte der damalige EU-Agrarkommissar Dacian Cioloș eine Wende angekündigt und den Begriff des Greenings geprägt: Die neue Agrarpolitik sollte grüner werden. Doch hinter den Kulissen machten Lobbyisten so heftig Druck, dass der ursprüngliche Plan vom Greening stark verwässert wurde und wenig Nutzen für Natur und Umwelt brachte. So wirkt das große europäische Projekt einer gemeinsamen Agrarpolitik wie ein schwerfälliger Tanker, der sich im Hafen verkeilt hat. Zu schwer, um wieder in Fahrt zu kommen, aber auch: too big to fail. Zu groß also, um einfach abgeschafft zu werden.Dabei war die gemeinsame Agrarpolitik zunächst eine Erfolgsgeschichte. An ihrem Anfang in den frühen 1960er Jahren stand eine gute Idee: Die Europäer sollten sich selbst mit Lebensmitteln versorgen können, auf einem gemeinsamen europäischen Markt. Der Zweite Weltkrieg hatte die landwirtschaftlichen Strukturen so zerstört, dass viele Länder Europas auf Nahrungsmittelimporte vor allem aus den USA angewiesen waren. Das sollte sich ändern, so wollten es die Gründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Deshalb förderten sie die Landwirte und stützten die Erzeugerpreise durch staatliche Interventionskäufe. Für die Bauernführer dieser Zeit war noch etwas wichtig – und auch das war ein guter Gedanke: Die Bauern sollten ebenso vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren wie die Industriearbeiter.Also legten die Landwirte den Turbo ein und modernisierten ihre Höfe nach den Prinzipien der Industrie: Intensivierung, Spezialisierung, Technisierung. Das Ergebnis waren enorme Produktionssteigerungen, günstige Rohstoffe für die wachsende Lebensmittelindustrie – und Umweltschäden sowie eine Entfremdung der Landwirte von der Gesellschaft, die sie ernährt. Keine 30 Jahre nach dem Hunger der Nachkriegszeit türmten sich in den Kühllagern Europas Butter- und Fleischpakete zu riesengroßen Bergen.Trotz heftiger Kritik gelang es der Europäischen Gemeinschaft lange nicht, die staatlich subventionierte Überproduktion zu stoppen. Stattdessen förderte sie viele Jahre Exporte in den globalen Süden – zu Lasten der Kleinbauern dort. Auch die Reformen von 1992, die Abkehr von Prämien für hohe Produktion und der Beginn der Direktzahlungen, brachten keine Wende.Jetzt wäre es Zeit für einen richtigen Neuanfang. Ein Weg dahin wäre, ein ganz neues Modell für die Landwirtschaft zu entwerfen: Bäuerinnen und Bauern sollten nicht länger Rohstofflieferanten einer globalisierten und wenig nachhaltigen Lebensmittelindustrie sein, die vor allem mit ungesunden Fertigprodukten Gewinne macht. Sondern sie sollten die Ernährungswende selbst in die Hand nehmen. Sie sollten das Herz von starken regionalen Wertschöpfungsketten werden und in engem Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern stehen, die sie versorgen. Dazu bräuchte es Förderung für regionale Verarbeitung, für die Umstellung auf ökologischen Landbau, für tierfreundliche Ställe, für Biodiversität auf dem Acker.Mit 365 Milliarden Euro könnte man eine ganze Menge erreichen.