Der bildungspolitische Skandal liegt nicht allein darin, dass es in unserer „Mediengesellschaft“ kein Schulfach Medienbildung gibt. Er beginnt mit einer verfehlten Idee von Medienbildung. Was an deutschen Schulen und Weiterbildungseinrichtungen vereinzelt und fakultativ unter dem Label Medienpass oder Medienführerschein vermittelt wird, zielt vor allem auf den fachkundigen, effektiven Umgang mit den Medien.
Das geht durchaus über das Tippen mit zehn Fingern und die Anwendung diverser Software hinaus. Man bespricht auch den richtigen Umgang mit Googles Rankinglist und die informierte Selbstdarstellung auf Facebook, man diskutiert den Umgang mit Cyber-Mobbing und die Rechtslage bei illegalen Downloads. Aber auch damit zielt Medienbildung vor allem auf die Vermittlung von
ttlung von Nutzungskompetenz. Gegenstand sollten jedoch zugleich die grundlegenden Strukturen und gesellschaftlichen Folgen der Medien sein. Die Frage „Was machen die Menschen mit den Medien?“ führt schließlich zur Frage: „Was machen die Medien mit den Menschen?“Konkret heißt dies etwa, nach den individuellen und sozialen Langzeitfolgen einer radikalen Transparenz-Kultur zu fragen. Oder nach den politischen Folgen der schon vielfach beklagten psychologischen Umpolung vom deep reading zu hyper-attention. Und es heißt auch, die doppelte Logik quantifizierender Bewertung zu diskutieren: die Likes und Views und Klout Scores als Übertragung des technologischen Operationsmodus in den Bereich menschlicher Kultur und als Ausbau einer betriebswirtschaftlich organisierten Gesellschaft, die alles Soziale quantifiziert.ZukunftsvergessenDas ist so komplex, wie es klingt. Man kann nicht davon ausgehen, dass Lehrer, die sich im Selbststudium medienwissenschaftliche Kenntnisse angeeignet haben, für solche Diskussionen schon gewappnet sind. Da könnte man ebenso den Studiengang Literatur aus der Lehrerausbildung streichen; schließlich weiß doch jeder, wer Goethe ist und wie man liest. Selbst Absolventen des inzwischen eingerichteten Erweiterungsstudienganges Medienpädagogik sind für die Diskussion der philosophischen, sozialen, ethischen, politischen und ästhetischen Implikationen der neuen Medien kaum vorbereitet. Denn die Fragen der Medienpädagogik sind nicht theoretischer, sondern handlungsbezogener Natur: Wie nutzen Kinder und Jugendliche die modernen Medien? Worin liegt deren Faszination? Wie kann ganzheitlich ein kompetenter Umgang gefördert werden?Es reicht eben nicht digital immigrant zu sein und mit dem Zusatzwissen des Herkunftsortes die Kulturtechniken und gesellschaftlichen Praxen zu thematisieren, in die digital natives automatisch hineinwachsen. Gewiss, man verhält sich reflektierter zur SMS, wenn man noch selbst Briefe schrieb, und man sieht das Transparenzgebot der neuen Medien kritischer, wenn man in den achtziger Jahren noch gegen die Volkszählung als Symptom des Überwachungsstaats protestierte. Gleichwohl: Tiefgreifende Medienbildung braucht so sehr eine grundlegende Ausbildung wie der Literatur-, Kunst- oder Ethikunterricht.Den Ausgangsort einer solchen Ausbildung vermutet die Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) zu Recht gerade in der Wissenschaft, deren zentraler Forschungsgegenstand Geschichte, Funktionsweise und Wirkung der Medien sind: in der eigenen. Das Positionspapier zur Medienbildung, das derzeit in der GfM-Arbeitsgruppe „Medienkultur und Bildung“ diskutiert wird, fordert daher zweierlei: Ein Konzept für schulische und außerschulische Medienbildung vor dem Hintergrund medienwissenschaftlicher Erkenntnisse und die Konzipierung umfassender Ausbildungsangebote von Seiten der Medienwissenschaft für Akteure schulischer und außerschulischer Bildung.Damit erwacht die GfM zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben: der Rückführung ihrer Forschungsergebnisse in die Bereiche der Gesellschaft, in denen sie für die Vermittlung eines reflektierten Welt- und Selbstverständnisses dringend gebraucht werden. Sie tritt endlich der Medienpädagogik zur Seite, die bisher mit Initiativen wie Keine Bildung ohne Medien allein auf das Defizit aufmerksam machte.Anders als dort ist für die GfM die Forderung eines eigenen Schulfaches allerdings nicht mit dem Ruf nach anforderungsgerechter Ausstattung und technischem Support verbunden. Denn primäres Ziel ist nicht, mit den Schülern die Sicherheitseinstellungen bei Facebook zu analysieren, sondern die kulturelle und soziale Bedeutung der Privatsphäre zu thematisieren. Medien sind weniger Mittel als Gegenstand des Unterrichts. Didaktiker wissen, dass auch dies mit dem Medium beginnen muss: auf der Facebook-Seite, in Googles Suchmaske, auf Wikipedia. Sie wissen zugleich, dass dazu nicht jeder Schüler vor einem Computer sitzen muss.Der fehlende Unterricht zu Medienbildung hat natürlich handfeste Gründe. Welches Schulfach gäbe gern Stunden ab? Wer wäre für die Verlängerung des Schultages? Wie müsste Medienbildung im Schulkontext institutionalisiert werden? Als vierte Kulturtechnik neben Lesen, Schreiben und Rechnen mit eigenem Fach, zumindest aber im Wahlbereich? Als Teil verschiedener Unterrichtsfächer, zumindest aber interdisziplinärer Projektarbeit?Hinter den praktischen Problemen liegt jedoch ein prinzipielles: Die Zukunftsvergessenheit der Gesellschaft. Es mangelt an Verständnis dafür, welch prinzipielle Weichenstellungen die neuen Medien jetzt für die Kultur und Gesellschaft der Zukunft vornehmen. Erstaunlich ist das nicht, schließlich fehlen den Weichenstellungen gleich zwei wichtige Aufmerksamkeitserreger: 1. Der Eventcharakter. Veränderungen im Algorithmus sind nicht spektakulär, da müssen schon Google-Autos durch deutsche Städte fahren. 2. Das Opfer. Die erfahrbaren aktuellen Vorteile übertrumpfen alle potenziellen Nachteile. Keine guten Voraussetzungen für eine „Ethik der Fernverantwortung“, wie sie der Soziologe Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung 1979 angesichts der damals ebenfalls unabsehbaren Folgen des technologischen Fortschritts einklagte.Und so schaffen, während die Politik beschäftigt ist mit Atomausstieg, Eurorettung und Rentenkrise, die digital natives im täglichen Gebrauch der neuen Medien Tatsachen. Wie kam es, wird man sich einmal fragen, dass ein börsennotiertes Privatunternehmen wie Google ohne jede gesellschaftliche Kontrolle weltweit die Paradigmen der Wissensproduktion und Wissensvermittlung bestimmt? Was hätte man tun können, als die neuen Medien wie nebenbei grundlegende Werte unserer Kultur – von der Privatsphäre übers Urheberrecht bis zur konzentrierten Lektüre – zur Disposition stellten?Fehlende DebatteGewiss, es gibt die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags Internet und digitale Gesellschaft, und es gibt zunehmend entsprechende Berichte und Rubriken in den traditionellen Massenmedien. Es ist nicht so, dass man nicht Bescheid wissen könnte. Dennoch: Es fehlt eine öffentliche Debatte darüber, welche Art von Gesellschaft wir unseren Nachkommen hinterlassen wollen und wie viel Gestaltungsspielraum wir dabei der jüngeren Generation überlassen sollten. So bleibt das Thema einerseits den stillen Machern und lauten Fortschrittsgläubigen überlassen, andererseits den populistischen Alarmisten, deren Maschinenstürmerei-Romantik bei besorgten Eltern so gut ankommt, wie sie engagierte Lehrer vor den Kopf stößt.Nötig ist eine Spekulation dazwischen: Zukunftswerkstätten, die aktuelle Entwicklungen hypothetisch hochrechnen. Jonas nannte es „imaginative Kasuistik“, die dem Automatismus der Entwicklung entgegentritt. Ob man, wie Jonas rät, aus ethischen und strategischen Gründen der schlechten Prognose Vorrang vor der guten geben muss, bliebe zu diskutieren. Entscheidend ist, dass man beginnt, über den Status quo hinaus zu denken. Bleibt die Hoffnung, dass die Debatte nicht mit den Details der Umsetzung erstickt wird, sondern über den Aufmerksamkeitsschub an der Schule ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins rückt. Denn wenn die Mediengesellschaft sich weiterhin einer grundlegenden Diskussion darüber entzieht, wie die Medien die Gesellschaft bestimmen, hat sie diesen schon das Feld überlassen.
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