Grass war ein anderer

Seitenblicke Mit Günter Grass starb ein engagierter Intellektueller. Aber sonst? War Grass ein wichtiger Mahner? Ein Besserwisser? Vermutlich beides. Und noch viel mehr
Ausgabe 16/2015

Grass und die Kritik

Auch wer Günter Grass nicht bedingungslos verehrte, und das waren zu Lebzeiten nicht wenige, und sie hatten nicht die schlechtesten Argumente, muss doch anerkennen, dass er die Literaturkritik zu Höchstform getrieben hat. Das gilt natürlich primär für seine schwächeren Romane. 1995 erschien Ein weites Feld, in dem er einen Wiedergänger Theodor Fontanes durch die Wiedervereinigung gehen und allerhand Parallelen zur Geschichte entdecken lässt. Der Mann heißt Theo Wuttke, arbeitet als Postbote bei der Treuhand und will nur „Fonty“ genannt werden; das klingt so albern wie gewollt, und vieles hat der Leser vergessen, aber nicht den Spiegel-Titel aus dem August 1995: Marcel Reich Ranicki zerreißt den neuen Roman von Grass – buchstäblich.

MRR schriebt einen seitenlangen offenen Brief (Staatsakt!) und lässt kein gutes Haar an dem Roman, von den 781 Seiten findet er ganze 5 gelungen (eine Episode mit Uwe Johnson). Und so geht das in den meisten anderen Kritiken weiter, bis die FAZ am Ende des Monats vermelden kann: „Jetzt haben alle Kritiker des neuen Grass gesprochen. Als letzter, doch durchaus würdevoll, joggte gestern Professor Wapnewski im Focus über die Ziellinie und gab seine Stimme ab (,nicht gelungen‘).“ Reine Lust auch der Verriss von Gustav Seibt in der FAZ: „Alles in diesem Buch ist Absicht, nichts ist Anschauung.“ Man erlebt ein Feuilleton in Höchstform, zu verdanken ist es einem Mann, der auf Kritik dünnhäutig reagierte, es aber insgeheim besser wissen musste. Schließlich hat er selbst eine der schönsten Parodien auf die Literaturkritik geschrieben: In seiner Erzählung Das Treffen in Telgte, verfasst 1979, nimmt er, durchs barocke Kleid verhüllt, die Rituale der Gruppe 47 aufs Korn. Michael Angele

Grass und die Politik

Grass, sagte Hans Werner Richter, der ihn von der Gruppe 47 her kannte, ist ein Dichter. Deshalb fragte er ihn nicht, als er 1964 Wahlkampfhelfer für Willy Brandt suchte. Grass war empört, er wollte sich engagieren. Später sagte er einmal, der knüppelharte Umgang der französischen Regierung mit den Gegnern des Algerienkriegs haben ihn, als er in Paris an der Blechtrommel schrieb, von der Pflicht zur Einmischung überzeugt. Er wurde der beste Wahlhelfer der SPD über fast 50 Jahre hinweg. Grass wurde in der Bundesrepublik immer öfter zuerst Bürger und erst dann Schriftsteller. Immer stärker drängte die Konzeption seiner Bücher in den Vordergrund. Wir sollen achten auf die Bedrohungen der Welt. Wir sollen den Frieden bewahren und die Partei wählen, die das am besten tut. (Ironischerweise war es dann ein SPD-Kanzler, der zum ersten Mal seit 1945 wieder deutsche Soldaten in einen Krieg schickte.) Zu Beginn seiner Karriere hatte er mit wunderbaren Gedichten berührt, gegen Ende hielt er sich für berufen, Israel als potenziellen Urheber eines neuen Weltkriegs zu attackieren. Ein dürftiges Gedicht, das mit der Überschrift „Was gesagt werden muß“ den Anklang an das spießige „Das muss doch mal gesagt werden“ nicht scheute.

Grass selbst ließ sich nichts sagen. Und das war es wohl, was seiner Karriere in der SPD im Wege stand. Sein Briefwechsel mit Brandt lässt erahnen, dass er daran dachte, beim Kanzler die Rolle zu spielen, die André Malraux bei Charles de Gaulle gespielt hatte: Kultusminister. Indessen, er war ein Heißsporn. Seine wohlwollenden Gesprächspartner wanden sich öfter vor Verlegenheit. So zuletzt Peer Steinbrück, als Grass, dem kein ernsthafter Mensch die Mitgliedschaft als 17-Jähriger in der Waffen-SS wirklich vorwerfen konnte, Angela Merkel mit dem Hinweis auf ihre FDJ-Mitgliedschaft herabsetzen wollte.

Er war ein bewundernswert kämpferischer Parteigänger. In der Hitze des Kampfes kann manches passieren, das man später bedauert. Grass bedauerte öffentlich nichts. Eher, um Theodor Mommsen zu paraphrasieren, ließ er um der Sache willen den Dichter in der Tasche. Jürgen Busche

Grass und die junge Generation

Ich entdeckte Günter Grass mit 13 Jahren für mich, also ein wenig frühreif. Es war das Milenniumsjahr, und meine Freunde tippten SMS-Nachrichten auf winzigen Nokia-Handytasten. Krieg und Danziger Westerplatte schienen unendlich fern. Und trotzdem hinterließ die Blechtrommel bei mir bleibenden Eindruck. Ein genialer Kunstgriff, das begriff ich schon damals, das Oskarchen die kleinen und großen Lebenslügen der Kleinbürger erzählen zu lassen. Der Wortbildhauer Grass fand immer wieder die treffendsten Metaphern für deutsche Nachkriegsbefindlichkeiten. Die vielen weiten Röcke der kaschubischen Großmutter, Kartoffeln kauend, gegen die Welt abschirmend: Wer hätte die sich nicht gewünscht in der rauen Nachkriegszeit?

Wer wie Grass dann Kunst und Politik vermengte, gerät schnell in die Sphäre des Agitprop. Lustvoll hat man das Israel-Gedicht verworfen. Das reflexhafte Einprügeln war aber wohl auch Ausdruck eigener antiisraelischer Ressentiments. Wir werden ihn noch vermissen, diesen lautstarken Mahner, der in seine Olivetti trommelte und aus der Zeit fiel, als wollte er nicht erwachsen werden mit der biederen, dissensfreien Polit- und Medienöffentlichkeit des 21. Jahrhunderts. Als ich von seinem Tod erfuhr, tippte ich eilig einen Facebook-Beileidspost. Betroffenheitspathos 2.0. Das lautlose Tippen auf dem Smartphone passt zu meiner Leisetretergeneration, die keinen Nullpunkt, höchstens einen Wendepunkt miterlebte.

Die Grass’sche Generation hatte dagegen nichts mehr zu verlieren, und sicher erklärt sich daraus die Unbedingtheit, mit der sie sich der Kunst oder Politik verschreiben konnte. Eine Unbedingtheit, die meine Generation kaum kennt. Wer verlangt noch nach einer Kassandra? Und wer will sich unbeliebt machen in Zeiten von Shitstorms? Die kopflastige Melancholie ist der literarische Modus der Stunde, keine Bauchmenschen, die Butt oder Kutteln auftischen und Pfeife rauchend am Tisch sitzen. Und doch: Konfrontation verlangt nach ganzen Kerlen und störrisch-kämpferischen Frauen. Der Butt kocht sich nicht von alleine. Man muss sich schon die Hände schmutzig machen. Und dann: nachsalzen. Marlen Hobrack

Grass und die DDR

Als sich im Frühjahr 1957 der junge ostdeutsche Literaturkritiker Heiner Müller den ersten Gedichtband des fast gleichaltrigen Günter Grass mit dem Titel Die Vorzüge der Windhühner vornahm, fiel sein Urteil vernichtend aus. Die Gedichte seien kraft- und politisch folgenlos: „Leute wie Grass haben uns und wir haben ihnen nichts zu sagen.“ Wir, das war für Heiner Müller damals noch die DDR.

Der Emporkömmling, bald weltbekannt, sah das anders. Er hatte ihnen was zu sagen. Er mischte sich ein, und zwar so, dass es den Literaturfunktionären bald den Schweiß auf die Betonstirnen trieb. Legendär wurde sein Auftritt beim DDR-Schriftstellerkongress im Mai 1961, zu dem er als Gast geladen war, weil die SED-Nomenklatura noch hoffte, dass der westdeutsche Nonkonformist vielleicht zum Bündnispartner gegen den Adenauer-Staat taugte. Taugte er nicht. Vor der versammelten Kulturelite persiflierte Grass das Funktionärsdeutsch und forderte die Freiheit des Worts. Damit war er auf dem besten Weg zu demjenigen Status, den er jahrelang behalten sollte: dem einer literarischen Unperson. Zumindest in der offiziellen DDR.

Unter den heimlichen Lesern des Leselands wurde der Name Grass hingegen hoch gehandelt. Nachdem sich die politische Großwetterlage langsam geändert hatte und 1984 dann tatsächlich die ersten beiden Bücher in Lizenz erschienen waren, bedankte sich Grass auf seine Art. Auf Lesereisen durch die DDR lobte er Gorbatschows Reformen und forderte Ähnliches für den SED-Staat. Das jubelnde Publikum sprach von „Grassnost“. Diese Phase währte nur kurz. Die Wiedervereinigung hielt Grass für übereilt. Konstantin Ulmer

Grass und die Polen

Nicht nur in Deutschland war das Wirken des Nobelpreisträgers mit einer gewissen Hassliebe verbunden. Auch in Polen fanden sich neben den zahlreichen Anhängern des gebürtigen Danzigers einige Stimmen, meistens aus der politischen Rechten, die ihm Idealisierung des deutsch-polnisch-jüdischen Nebeneinanders vor dem Krieg sowie stereotype Darstellung von Polen und Kaschuben vorwarfen. 2006, nach Grass’ spätem Geständnis über die Zugehörigkeit zur Waffen-SS, verschärften sich die Fronten noch einmal; Forderungen wurden laut, dem Schriftsteller, der auch zwei Ehrendoktortitel polnischer Universitäten erhielt, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Gdańsk abzuerkennen. Zu den Befürwortern dieser letztendlich verworfenen Idee gehörte auch der ehemalige Präsident Lech Wałęsa.

Verhältnismäßig wenig Kontroversen löste dafür hierzulande seine Novelle Im Krebsgang aus. Bei der Verfilmung des Romans Unkenrufe durfte auf Wunsch von Grass ein Pole, Piotr Gliński, Regie führen. Grass inspirierte und inspiriert polnische Schriftsteller wie Paweł Huelle oder Stefan Chwin. Der 2000 verstorbene Dichter und Übersetzter Bolesław Fac, der den deutschen Schriftsteller nach dem Krieg durch die polnische Stadt Gdańsk führte, galt als sein engster Freund in Polen.

In der deutsch-polnischen und europäischen Vergangenheit sah Grass eine Verpflichtung und eine Chance zugleich, durch das Erinnern demokratische Ideen zu stärken. Er setzte sich tatkräftig für den Vorschlag der polnischen Intellektuellen Adam Michnik und Adam Krzemiński ein, das Zentrum gegen Vertreibungen in Wrocław anstatt in Berlin unterzubringen, mit dem Hinweis, dass man die Vertreibungen in einem gesamteuropäischen Kontext betrachten muss.

In den Nachrufen der polnischen Presse findet man keine zuckersüßen Lobenshymnen, aber sogar die kritische Tageszeitung Rzeczpospolita vermerkte, dass Polen mit Günter Grass einen wichtigen Botschafter und Freund verloren hat. Izabela Drozdowska-Broering

Grass und die Nachdenklichkeit

Sein Selbstbewusstsein schien unerschütterlich, gewiss, aber privat war er anders: bescheiden, leise und nachdenklich. Als ich an meinem Buch Die Flakhelfer schrieb, sprachen wir oft stundenlang über seine Erlebnisse im Dritten Reich und, ja, auch über seine kurzzeitige SS-Mitgliedschaft, deren Enthüllung ihm 2006 viel Kritik und Anfeindungen einbrachte. Tatsächlich hätten aufmerksame Leser schon in seiner Novelle Im Krebsgang die Anzeichen von erzählerischem Bekenntnisdrang entdecken können, wenn der Ich-Erzähler über seinen Sohn schreibt: „Wie gut, dass er nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, so dass ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken.“

Er hat sich diesen Gedanken gestellt, hat von der Blechtrommel bis zu seinem Gedichtband Eintagsfliegen immer wieder über seine eigene Verstrickung als Jugendlicher geschrieben (und über so viel mehr). Während andere bis heute ihre NSDAP-Mitgliedschaft wegreden oder schlicht verleugnen, hat er seine Schuld aus eigenem Antrieb preisgegeben. Immerhin.

Es war gerade diese selbst empfundene Schuld, die seinen moralischen Furor antrieb und ihn bei öffentlichen Stellungnahmen mitunter harsch und unduldsam sein ließ. Als gebranntes Kind wollte er sich niemals mehr vorschreiben lassen, was er zu denken habe – auch und erst recht nicht, wenn die meisten etwas für ausgemacht und richtig hielten. Aber dieser Furor führte ihm auch die Feder, während er an Büchern wie der Blechtrommel, Hundejahre und Der Butt schrieb. An Werken also, die bleiben.

So entstanden Werke, die an Selbsterkenntnis und Hellsichtigkeit ihn und unsere Zeit lange überdauern werden.

P.S. Bei einem unserer Treffen in seinem Haus in Behlendorf erwähnte Grass vor ein paar Jahren, er habe einen Herzschrittmacher bekommen. Das hielt ihn nicht von seiner Arbeit ab, die vor allem aus Gedichten und Radierungen bestand. Auf dem Boden seines Studios lag zu hunderten die Nussernte verteilt, wir mussten vorsichtig gehen, um sie nicht zu zerdrücken.

„Mit einem Sack Nüsse” wolle er begraben werden, schrieb Grass in dem späten Gedicht “Wegzehrung”: ”Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er.” – Da soll noch einer sagen, der Alte hätte keine Selbstironie gehabt.

Malte Herwig

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