Grenzen der Verzweiflung

Reportage Aufruhr ohne Abschluss: 18 Monate lang hat Scott Anderson die arabische Welt bereist und versucht zu verstehen
Ausgabe 06/2018
Wird sich am Ende doch alles zum Guten wenden?
Wird sich am Ende doch alles zum Guten wenden?

Foto: Amer Almobihany/AFP/Getty Images

Es grenzt an Größenwahn, mit einem einzigen journalistischen Text die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre in der arabischen Welt erklären zu wollen. Der frischgebackene Chefredakteur des New York Times Magazine, Jake Silverstein, trat jedoch 2014 mit genau dieser Bitte an den Schriftsteller und ehemaligen Kriegsberichterstatter Scott Anderson heran. 18 Monate lang reiste der dann durch den arabischen Raum. Seine Reportage, die eine ganze Ausgabe des Magazins einnimmt, hat er in Zerbrochene Länder nun nochmals erweitert vorgelegt. Sechs Menschen haben ihm ihre Geschichten erzählt. Sie leben in unterschiedlichen Gebieten der arabischen Welt, aber auch in den USA und in Europa. Sie erzählen vom Irakkrieg, vom Arabischen Frühling, vom Aufstieg des Islamischen Staates.

Da ist etwa die Geschichte von Laila Soueif, einer ägyptischen Aktivistin, die zum dritten Mal versucht, ihren Sohn aus der politischen Gefangenschaft zu befreien. Und die von Majdi el-Mangoush, einem syrischen Studenten, dessen Heimatstadt Homs sich ins „Stalingrad Syriens“ verwandelt. Da ist Azar Mirkhan, ein kurdischer Urologe, der viele Leben rettet, aber auch einige beendet – als hochrangiger Kommandeur bei den Peschmerga, den Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan. Und da ist Wakaz Hassan, ein irakischer Hilfsarbeiter, der sich nur wegen des Geldes, das ihm hier winkt, dem IS anschließt. Die Berichte aus erster Hand stehen bei Scott Anderson exemplarisch für die Entwicklungen in einer Region, die „aus den Fugen geriet“. Man liest etwa, wie überwältigt Soueif war, als sich 2011 mehr als 15.000 Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo versammelten und gegen das Regime Hosni Mubaraks demonstrierten. Die langjährige Aktivistin hätte sich nie erträumen können, dass die sogenannte Jasminrevolution in Tunesien solche Auswirkungen auf Ägypten haben würde. Und auch nicht, dass der 28. Januar 2011 als „Tag des Zorns“ in die Geschichte eingehen würde.

Immer wieder: der Irakkrieg

Es ist der Balanceakt zwischen Fakt und Emotion, der einen Lesefluss garantiert, bei dem man nie unbeteiligt bleibt. Die Unterkapitel sind sehr kurz. Sie gliedern sich chronologisch nach den erzählenden Personen. In einigen wenigen Passagen ergreift Anderson selbst das Wort, beschreibt zum Beispiel seine Fassungslosigkeit angesichts der Loyalität eines „modernen Menschen“ zu Familie und Clan.

Politische und historische Eckdaten betten die einzelnen Erzählungen in den größeren Kontext ein. Anderson ruft uns das Sykes-Picot-Abkommen aus dem Mai 1916 ins Gedächtnis: Nach dem Ende des Osmanischen Reiches infolge des Ersten Weltkrieges wurde es Grundlage der Teilung der arabischen Welt in eine britische und eine französische Sphäre. Die ehemalige osmanische Provinz Palästina wurde unter internationale Verwaltung gestellt.

Der Einmarsch der US-Truppen in den Irak im März 2013 spielt eine gewichtige Rolle in Andersons Narrativ. Auf die Auswirkungen der amerikanischen Nahostpolitik richtet sich ohnehin der primäre Fokus des Buches. Das ist ein gerechtfertigter, aber möglicherweise verkürzter Blick in die Vergangenheit, der noch weiter und bis ins Osmanische Reich hätte reichen können. Dennoch erfüllt der Reportageband, der durch die Aufnahmen des Fotografen Paolo Pellegrin, die von 14 Jahren des Reisens durch die arabischen Länder zehren, noch größere Nähe zu seinem Gegenstand schafft, seinen Zweck. Die extrem komplizierte politische und kulturelle Gemengelage in der arabischen Welt wird der Leserin, die sich auf die Geschichten einlässt, anschaulich.

Die wahllosen Grenzziehungen in der Vergangenheit, die oft wie am Reißbrett erfolgten, wurden den hochkomplexen gesellschaftlichen Strukturen im arabischen Raum nie gerecht. Sie werden es auch heute nicht. Die Zahl der Parteien ist immens. Rivalitäten zwischen ihnen sind über Generationen hinweg noch deutlich spürbar. Aus den persönlichen Geschichten ist zu erahnen, wie sich Desintegration anfühlen muss. Man hofft, dass sich zumindest für die sechs aus Ägypten, Libyen, Syrien, dem Irak und dem irakischen Teil Kurdistans, von denen Scott Anderson hier erzählt, am Ende doch alles zum Guten wenden wird.

Zerbrochene Länder. Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet Scott Anderson Laura Su Bischoff (Übers.), Suhrkamp 2017, 264 S., 18 €

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