In den dreißiger Jahren meinte John Maynard Keynes, der einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts, dass eine längere Periode starken wirtschaftlichen Wachstums genügen müsse, um das ökonomische Problem zu lösen. Die Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas hätten dann Produktionsmittel im Überfluss, könnten jedes Bedürfnis befriedigen, und die Bürger würden sich dann wohl den angenehmeren Dingen des Lebens zuwenden. In den siebziger Jahren war sie tatsächlich da, die Chance, in ein solidarisches post-industrielles Zeitalter einzutreten. Nur mit dem Roll-Back der Mächtigen hatte Keynes nicht gerechnet. Und so ist heute die Frage, auf welchem Boden sowohl Freiheit als auch Solidarität wachsen könnten, neu zu beantworten.
Der Kapitalismus ist überall. Er ist erfolgreich, effizient, und befreiend. Gleichzeitig brutal, ineffizient und verantwortungslos. So sehr wir uns winden: Der Kapitalismus ist unser gegenwärtiges Schicksal, wir müssen noch in ihm und mit ihm leben. Aber er ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Seine inneren Widersprüche treiben ihn einem Wendepunkt entgegen: Entweder mündet er in ein chaotisches, globales Interregnum, aus dessen Trümmern sich ein neues "Empire" erheben wird. Oder es gelingt uns, ihn im Geiste des Humanismus zu überwinden, indem wir ihn in den Transkapitalismus überführen - die nächste Stufe der Geschichte.
Der Weg dorthin führt nicht über die Revolution. Das Geschwätz von der Zerschlagung des Systems ist nette Folklore des 19. und 20. Jahrhunderts. Tatsächlich sind in den Revolutionen der Vergangenheit nur Machteliten ausgetauscht worden. Allenfalls haben die Sieger anderes Besteck mitgebracht, um sich an den Fleischtöpfen ihrer Zivilisation gütlich zu tun. An Ausbeutung und Unterdrückung haben sie alle festgehalten. Also Schluss mit den Revoluzzer-Posen in einer Zeit, da Che Guevaras Konterfei Markenprodukte der verwöhnten Jugend ziert. Sie sind sympathisch, aber substanzlos. Der Transkapitalismus kann nur aus lokaler Subversion und global lokalen, vernetzten Aktionen entstehen. An ihm ist aber nichts Geheimnisvolles: Seine Bestandteile liegen bereits offen vor uns.
1789 plus
Liberté, Egalité, Fraternité - mit diesem Schlachtruf griff die Französische Revolution die feudale Zivilisation Europas an. An diesen Werten ist bis heute nichts falsch. Doch 215 Jahre später wissen wir: Sie genügen nicht. Denn sie haben nicht verhindert, dass Europa und der Westen die Welt unterjocht haben. Egalité galt zuerst für Weiße. Liberté wurde vor allem zur Freiheit des Kapitals. Und Fraternité schloss im Wortsinn die Hälfte der Menschheit aus: die Schwestern. Der Transkapitalismus gründet sich auf ein neues Wertesystem: "1789 plus". Der Trias Freiheit, Gleichheit, Solidarität fügt er eine zweite hinzu: Offenheit, Gewaltlosigkeit, Leidenschaft.
Offenheit ist eine Absage an Grenzen und Barrieren, die Menschen in "Rassen" oder "Ethnien" einteilen und vom kollektiven Wissen der Menschheit fernhalten. Gewaltlosigkeit ist eine Absage an Strategien und Denkweisen, die auf Konfrontation statt Kommunikation setzen. Leidenschaft ist eine Absage an eine Rationalität, die Profitmaximierung als die gesündeste Motivation für menschliches Zusammenleben ansieht und den Körper als bloße Maschine zur Aufrechterhaltung einer "Ordnung". Offenheit, Gewaltlosigkeit, Leidenschaft: Große Worte, aber sind es nicht am Ende leere Worte? Nein - denn diese Werte finden sich, allen Kriegen und Machtexzessen zum Trotz, wie ein gemeinsamer Traum in sämtlichen Kulturen auf diesem Globus. Überall werden sie schon heute Tag für Tag im Kleinen praktiziert.
Fünf Elemente machen den Transkapitalismus aus: das "Prinzip Bohème", eine Weltwährung, die offene Technosphäre, Regionalisierung und radikale Demilitarisierung. Ist das etwa der unsinnige Versuch eines Kapitalismus "mit menschlichem Antlitz" - also eine Quadratur des Kreises? Eine gewisse Ähnlichkeit ist zwangsläufig, denn der Transkapitalismus geht aus dem Kapitalismus hervor, aber eben nicht aus seinen Ruinen. Er entwickelt heute erkennbare Potenziale zu einer neuen Zivilisation weiter und bricht mit der Idee einer Avantgarde, die als Fackelträger dogmatischen Denkens davon eilt und ohne Rücksicht auf den Rest Strukturen schafft, die den weniger Erleuchteten als hehres Joch auf die Schultern gelegt werden.
Prinzip Bohème
Der Transkapitalismus entsteht in der modernen Katastrophe der Stadt. Millionen Menschen haben offenbar nichts Besseres zu tun, als in wuchernde Ballungsräume zu fliehen. Wie können sie bloß Traditionen, Sicherheit und ländliche Geborgenheit gegen Anonymität, Gewalt, Lärm und Hektik tauschen? Doch die Entwurzelten, die Glücksritter, die Träumer, sie haben nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Der "American Dream" ist ihnen lächerlich geworden, weil sie Besseres zu tun haben, als vom Rentierdasein des ausgebrannten Millionärs in Suburbia zu träumen. Den industriellen Sozialstaat des 20. Jahrhunderts empfinden sie als Verwahranstalt, die Leidenschaft zum Hobby degradiert. Nein, zwischen bourgeoisem Jet-Set und proletarisiertem Kleinbürgertum haben sie etwas Anderes entdeckt. Nennen wir es das "Prinzip Bohème" - die Lust am eigenen Werk. Leben, Kunst und Produktion in Unmittelbarkeit sind für die Transkapitalisten eins geworden.
Gierig schielt der Kapitalismus nach ihrer Kreativität, ihrem Selbstvertrauen, ihrer Traditionslosigkeit - Eigenschaften, die sie für seine postindustrielle Phase prädestinieren. Der Informationskapitalismus versucht noch, sie unter Androhung von Verelendung in einen erbarmungslosen Wettbewerb "negativer Individuen" zu treiben und so als "Wissensarbeiter" auszubeuten. Doch der Schimäre einer "Ich-AG" setzt die neue Bohème die Gruppe, die Kooperative, die Band entgegen. Hier regieren Respekt und der Austausch von Fähigkeiten. Lernen ist nicht länger der verzweifelte Rettungsversuch einer gebrochenen Biografie, sondern der gemeinsame Weg durch ein mit anderen geteiltes Leben. Es geht nicht mehr um einen möglichst schnellen Upload von verwertbaren Daten, sondern um die Entwicklung von Ideen, um handwerkliche Geschicklichkeit und persönliche Reife. Die neue Bohème versucht erst gar nicht, sich dem Big Business anzubiedern: Größe und Macht sind ihr zuwider.
Sie bricht mit der Massenproduktion des Kapitalismus und schafft eine kleinteilige Produktionsweise neuer "Manufakturisierung", die durch die offene Technosphäre möglich wird. Reparieren und Umfunktionieren entwickeln sich zu wichtigen Wirtschaftssektoren. In wechselnden Assoziationen verschwindet die Trennung von (Lohn)Arbeit und dem Rest des Alltags, die uns der Kapitalismus aufgezwungen hat. Das "Floaten" zwischen verschiedenen Tätigkeiten und persönlichen Fähigkeiten - zum Beispiel als Eltern, Ideenarbeiter, Handwerker - wird zur ökonomischen Grundlage, weil es sich der "Standortlogik" des Big Business und dem Rentier-Syndrom der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft entzieht.
Globo - eine Währung für alle
Auch wenn Massenprodukte und demonstrativer Luxus im Prinzip Bohème ihren Reiz verloren haben - Shoppen geht man nach wie vor. Der Transkapitalismus ist eine Geldwirtschaft. Die Segnungen des Geldes sind zu wichtig, als dass der Bohème darauf verzichten könnte. Denn erst Geld ermöglicht ihm Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit. Die wahre Emanzipation der Frauen begann, als diese selbst Geld verdienten und sich nicht mehr dem Patriarchen unterordnen mussten. Und auch das bedingungslose Ausleben der Neigungen ist nur in einer Geldwirtschaft möglich. Kunst, Geist und Musik blühen nur im Geldstandard, wo kein Staat und auch kein Fürst vorgibt, was er lesen, hören oder gedacht haben möchte. Darüber hinaus werden in keinem anderen System die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen ernster genommen. Dafür sorgt der unschlagbare Preismechanismus der Geldwirtschaft.
Weil er kein echtes Geld hatte, ist der Kommunismus gescheitert. Und deshalb werden auch die sozialromantischen Tauschringe scheitern. Sie sind zu kompliziert, sie senden keine Preissignale aus, und sie schaffen erst recht keine Innovationen. Denn verschulden kann man sich in den Tauschwährungen nicht und deshalb auch nicht investieren. Im Transkapitalismus gibt es Geld, aber nur ein Geld: den Globo. Er ist das Weltgeld, das aus einer Fusion der Blockgelder wie Dollar oder Euro hervorgeht. Der Globo erkennt die Wahrheit der Geldwirtschaft an, reduziert aber die Unsicherheit erheblich und sorgt für ausreichend hohe Inflation.
Im Transkapitalismus macht der Globo Währungskrisen unmöglich, weil es schlicht keine Zahlungsbilanzen mehr gibt, die ins Ungleichgewicht rutschen können. Devisenspekulation gehört der Vergangenheit an. Und auch über gemeinsame Fiskalregeln muss sich niemand Gedanken machen. Die Region, die sich zu stark verschuldet, erlebt zwar weiterhin eine Verschuldungskrise. Doch mit einem fairen Konkursrecht für Regionen ist das Problem zu lösen.
Dank des Globo hat der Vermögenseigentümer nur noch die Wahl, sein Vermögen in dem Weltgeld oder aber in Betongold aufzubewahren wie Immobilien oder Edelmetallen. An einem stabilen Globo kommt keiner vorbei. Doch stabil muss nicht zwei Prozent Inflation heißen, es können auch vier oder fünf Prozent sein. So schafft man ein Geld, das die Konjunktur stimuliert. Der Globo erledigt auch eine weitere Ungerechtigkeit: den Internationalen Währungsfonds. Er und seine irrsinnigen Kuren auf dem Rücken der Armen werden obsolet. Die Weltbank bleibt: Sie gibt den Globo heraus und macht die Geldpolitik.
Der Transkapitalismus hält zwar an einer Geldwirtschaft fest, dämmt aber ihr großes Problem ein: die zwangsläufige Akkumulation des Kapitals in den Händen Weniger. Alle 75 Jahre, also höchstens einmal im Leben eines Menschen, kommt es zu einer radikalen, institutionalisierten Vermögensumverteilung. Dann werden die Schulden zu großen Teilen erlassen und spiegelbildlich das in Schuldtiteln gehaltene Vermögen vernichtet. Zurück auf Los - das Spiel beginnt von vorn.
Freier Zugang zu Technik und Wissen
Die Welt des 21. Jahrhunderts markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Jahrtausende währenden Entwicklung: die Umwandlung der ursprünglichen Biosphäre des Planeten in eine Technosphäre. Kein Ort, an dem der Mensch nicht eingegriffen oder zumindest Spuren hinterlassen hätte - vom erdnahen Weltraum bis hinab zu den Bausteinen der Materie hat er jede Sphäre durch Technik erschlossen und manipuliert. Bedauern darüber ist fehl am Platz, denn dies ist seine Existenzform. Nur so kann der nackte Primat mit der Welt umgehen. Es gibt keinen Weg zurück nach "Arkadien".
Der Kapitalismus bezieht aus diesem technischen Schicksal seine Dynamik. Aber er versucht, diese Aneignung auch auf den menschlichen Körper und auf Wissen und Erkenntnis auszudehnen, in dem er diese beiden Sphären dem Eigentumsregime unterwirft - mit Hilfe von Patenten und anderen Formen "geistigen Eigentums". Zu ihrer Durchsetzung muss er sich auf potenziell totalitäre Überwachungs- und Kontrollsysteme stützen.
Der Transkapitalismus bricht hier mit der kapitalistischen Logik, indem er das Design der Technosphäre - eben Wissen und Erkenntnis - zum öffentlichen Gut erklärt. Eigentum kann nur noch an materiellen Gütern bestehen. Der Transkapitalismus verwandelt die Idee offenen Wissens, die heute in den Bewegungen der Freien Software (Open Source) oder des freien Zugangs zur wissenschaftlichen Erkenntnis (Open Access) immer mehr Zulauf gewinnt, in ein konstituierendes Prinzip. Dieses Prinzip entzieht den global agierenden Konzernen etwa der Pharma-, Medien- oder Computerindustrie ihre Existenzgrundlage. Das Zeitalter der ökonomischen Dinosaurier endet hier - das "Plagiat" ist nicht länger Delikt, sondern Ausgangspunkt der Produktion. Damit wird die gegenwärtige "Fabrication Divide" - ein Begriff des US-Physikers Neil Gershenfeld - zwischen den Zentren und der Peripherie des Kapitalismus aufgehoben. Jede Region ist frei, sich aus dem globalen Wissenspool zu bedienen und die Güter, die sie braucht, zu ihren Bedingungen zu produzieren. Sie sind folglich keine Massenprodukte mehr.
Hier greift ein weiteres Element, das der gegenwärtige Kapitalismus hervorgebracht hat: die Entwicklung kleinteiliger, "intelligenter" und damit lokal nutzbarer Technologien. Sie sind das Ergebnis neuer Herstellungsverfahren aus Mikro- und Nanotechnik und neuer Werkstoffe, die ohne die gigantischen und kapitalintensiven Produktionsstätten des Kapitalismus auskommen. Im Transkapitalismus wird die Fabrik durch den "Personal Fabricator" ersetzt. Er wird zur Grundlage einer neuen lokalen Manufakturisierung. Dies geht mit eine radikalen Veränderung von politischen Strukturen und Handel einher.
Regionen statt Nationen
Der Transkapitalismus bedeutet das definitive Ende des Nationalismus. Die Nation, ein historischer Irrtum, fällt als Zwischenebene weg. Im Transkapitalismus gibt es nur noch die Weltunion und darunter eine Vielzahl von Regionen von vergleichbarer Größe, die sich über kulturelle Eigenschaften wie Dialekt, Kunst und Geschichte definieren. In den Regionen leben zwischen zehn und zwanzig Millionen Menschen, die nicht für den globalen Markt arbeiten, sondern für die Region. Handel treiben sie zuerst mit den Nachbarregionen.
Auf der globalen Ebene gibt es vier Institutionen: Erstens das Weltgeld, den Globo, den die Weltbank herausgibt. Zweitens die World Resources Organisation (WRO), die - als Ersatz für die heutige WTO - die Nutzung der Rohstoffe für alle Regionen und Kontinente aushandelt. Drittens das Weltkartellamt, das die Macht der Konzerne in Schach hält und dem Prinzip der sich selbst genügenden Regionen verpflichtet ist. Denn das Ende des Nationalstaats ist auch das Ende der transkontinentalen Konzerne: Sie werden in ihre regionalen Teile zerlegt und können die Regionen nicht länger gegeneinander ausspielen. Die vierte Institution ist ein Weltsteueramt, das Mindeststeuersätze für Kapitalerträge, Unternehmensgewinne und Einkommen festlegt. Steuerwettbewerb zwischen den Regionen ist zwar erwünscht, aber die Ausbeutung aller durch wenige Reiche, die ihr Geld in Steueroasen wie der Schweiz oder Luxemburg unterbringen, funktioniert im Transkapitalismus nicht.
Das Verschwinden der Nationalstaaten und des westlich beherrschten Welthandels sind eine Bedingung für das fünfte wesentliche Element des Transkapitalismus: die radikale Demilitarisierung. Sie ist mehr als nur umfassende Abrüstung bis hin zum globalen Verbot jeglichen Waffenhandels und der Abschaffung nationalstaatlicher Armeen. Radikale Demilitarisierung bedeutet auch ein Ende des ökonomisch geführten Kriegs um Märkte, die "erobert", und um Rohstoffe, die "gesichert" werden müssen. Ein Krieg, der im Kapitalismus die Sprache und die Köpfe verseucht hat. Im Transkapitalismus gibt es keine Global Player und damit keine globalen Märkte im heutigen Sinne mehr.
Der Transkapitalismus ist eine Zukunft, die möglich ist. Ein "Garten Eden", in dem es keine Betrüger, keine Egoisten oder keine Zivilisationskrankheiten mehr gibt, ist er nicht. Der Transkapitalismus erkennt die Komplexität und Zweideutigkeit des Lebens an - deren versuchte Überwindung der Anfang jeden faschistoiden Denkens ist. Aber im Unterschied zum Kapitalismus blendet er die Machtfrage nicht aus. Er beantwortet sie, indem er die Macht ökonomisch und politisch in einem bislang nicht gekannten Ausmaß verteilt und damit das Versprechen "Power to the People" einlöst.
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