Grenzen sprengen

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Die Grünen sind die neue Partei der Mitte. Aber sind Lösungen für die Probleme unserer Zeit überhaupt in der Mitte zu finden?
Ausgabe 26/2019
Grenzen sprengen

Grafik: der Freitag

Sie steht am Abgrund, die SPD, und gibt sich deshalb gerade etwas linker. Die Union, den Abgrund zumindest schon in Sichtweite, macht auf konservativ. Während die einstigen Volksparteien trotz Profilierungsinszenierungen immer mehr an Zustimmung verlieren, befindet sich eine andere Partei im siebten Demoskopenhimmel: die Grünen.

Sie sind die geeignete Projektionsfläche für diejenigen, die müde sind von Jahren der „Großen Koalition“, die Angst vor einen Rechtsruck haben, die aber eigentlich ganz zufrieden mit dem Hier und Jetzt sind, weil sie auf der Sonnenseite der Gesellschaft Platz gefunden haben. Die Grünen sind der Inbegriff des Pragmatismus, sie sind die neue Partei der Mitte.

Erstmals in der Geschichte der Grünen stehen zwei Realos an der Spitze. Alle dürfen mitmachen, sich wohlfühlen, mit Robert Habeck philosophieren. Die Grünen auf den Spuren von Platon und Aristoteles, die die Besonnenheit zur Kardinaltugend erklärten und Maßhalten propagierten.

Den linken Flügel hält man sich aus Tradition, hält zu ihm wie zu einem spleenigen Onkel in der Familie, dessen Positionen aber man für überkommen hält. Habeck schreibt in seinem Buch Wer wagt, beginnt, dass die Konfliktlinien nicht mehr entlang der „alten Rechts-links-Schemata“ verlaufen, sondern zwischen Liberalität und Illiberalität. Frei nach dem Mitte-Avantgardisten Tony Blair, 1997 bis 2007 britischer Premierminister, gibt es keine rechte und auch keine linke Politik mehr, sondern nur noch gute oder schlechte.

Bei der verfassunggebenden Nationalversammlung in Versailles vor 230 Jahren saßen rechts die Royalisten, links die Republikaner. Die Mitte war da noch ein Ort für Opportunisten, Überläufer waren Verräter. Heute steht die Mitte für Versöhnung, Überbrückung und Ausgewogenheit; die Mittigen werfen nur dann etwas in die Waagschale, wenn die Gesellschaft nicht mehr in Balance ist.

Weniger besonnene Mitte-Fanatiker versuchen die Ränder zu bekämpfen. In der Verfassungsschutz-affinen Politikwissenschaft hat sich das Bild des Hufeisens durchgesetzt, wonach sich links und rechts in den Extremen wieder annäherten. Die wahrhaftig Mittigen handeln natürlich cooler und versuchen die Extreme wegzulächeln. Die Extremen – auf der rechten Seite sind es die Schlichten und die Dummen, auf der linken Seite sind es die Dickköpfe und Ideologen.

Die Mittigen halten Ideologien für etwas Böses und glauben stattdessen an das Ende der Geschichte, in der es keine großen Erzählungen mehr gibt, der Universalismus längst tot ist und sich eine Politik des Klein-Klein bewährt hat. Je kleiner das Problem, desto handhabbarer ist es. Am großen Ganzen lässt sich freilich nichts ändern. Der Kapitalismus wird als gegeben akzeptiert, quasi zum Naturgesetz erklärt. Entsprechend brauchen die Mittigen niemanden, der über Interessengegensätze in der Gesellschaft redet, sondern kreative Köpfe. So tummeln sich in der Mitte Expertinnen und Technokraten, die nach Lösungen innerhalb der engen Grenzen des Bestehenden suchen. Sie wollen den Klimawandel aufhalten, aber bitte Hand in Hand mit den Unternehmen, sind für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft. Sie wollen die Sanktionen bei Hartz IV abschaffen – weil diese nicht effektiv sind.

Mitte und Maß – diese Ideale sind so tief verankert im Bewusstsein der Menschen. Da kann eine Linke noch so stark zerren, der Alltagsverstand weiß, dass die Wahrheit irgendwo zwischen rechts und links liegt – oder schlimmer noch: in der goldenen Mitte zu suchen ist. Da sitzen die Mittigen, die das tun, was sie am besten können: vermitteln.

Eine Post-Politik der Mitte, dafür stand Tony Blair, dafür steht Angela Merkel, und dafür werden die Grünen stehen.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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