Greta Thunberg: Ihr lasst euch belügen

Klimapolitik Unsere Regierungen sagen, sie würden alles tun, um den Klimawandel zu bekämpfen. Doch das stimmt nicht. Es ist höchste Zeit, dagegen aufzustehen. Ein Weckruf von Greta Thunberg
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 42/2022 | Aktualisiert am 24.10.2022, 10:20
Stimme einer Bewegung: die Schwedin Greta Thunberg
Stimme einer Bewegung: die Schwedin Greta Thunberg

Foto: Michael Campanella/Getty Images

Vielleicht ist die Bezeichnung das Problem. Klimawandel. Das klingt nicht sonderlich schlimm. Das Wort „Wandel“ hat in unserer rastlosen Welt einen recht angenehmen Klang. So reich wir auch sein mögen, ist doch immer noch Raum für die verlockende Möglichkeit einer Verbesserung. Dann ist da noch der Wortbestandteil „Klima“. Auch er klingt nicht so schlecht. Menschen, die in einem der zahlreichen Länder des globalen Nordens mit hohen Emissionen leben, könnten die Vorstellung eines „Klimawandels“ durchaus für alles andere als beunruhigend und gefährlich halten. Eine sich ändernde Welt. Ein wärmer werdender Planet. Was sollte man daran nicht mögen?

Vielleicht stellen sich viele teils deshalb den Klimawandel immer noch als einen langsamen, linearen und sogar recht harmlosen Prozess vor. Aber das Klima verändert sich nicht einfach nur, es gerät aus dem Gleichgewicht. Es bricht zusammen. Die fein ausbalancierten natürlichen Muster und Zyklen, die ein lebenswichtiger Bestandteil der Systeme sind, die das Leben auf der Erde erhalten, werden gestört, was katastrophale Folgen haben könnte. Denn es gibt negative Kipppunkte, „points of no return“. Und wir wissen nicht genau, wann wir diese möglicherweise überschreiten. Was wir allerdings wissen, ist, dass sie erschreckend näher rücken, und zwar selbst die wirklich entscheidenden. Transformationen beginnen oft langsam, beschleunigen sich dann aber allmählich.

Der deutsche Ozeanograph und Klimatologe Stefan Rahmstorf schreibt: „Wir haben genügend Eis auf der Erde, um den Meeresspiegel um 65 Meter steigen zu lassen – das entspräche der Höhe eines Hochhauses mit 20 Stockwerken. Am Ende der letzten Eiszeit stieg der Meeresspiegel infolge einer Erwärmung von etwa 5° C um 120 Meter.“ Zusammengenommen vermitteln diese Zahlen einen Eindruck von den Kräften, mit denen wir es hier zu tun haben. Beim Anstieg des Meeresspiegels wird es nicht mehr lange um Millimeter, Zentimeter oder Dezimeter gehen.

Das Grönlandeis schmilzt ebenso wie der Thwaites-Gletscher (Doomsday Glacier) in Westantarktika. Laut jüngsten Berichten ist der Kipppunkt bei diesen beiden Ereignissen bereits überschritten. Nach anderen Berichten steht er unmittelbar bevor. Möglicherweise haben wir also bereits eine so starke Erwärmung verursacht, dass sich das Abschmelzen nicht mehr aufhalten lässt oder wir diesem Punkt sehr nahe sind. Gleichwie müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um diesen Prozess zu stoppen, denn wenn diese unsichtbare Linie erst einmal überschritten ist, gibt es möglicherweise kein Zurück mehr. Wir können ihn verlangsamen, aber sobald der Schneeball ins Rollen gebracht ist, rast er einfach weiter.

Die vorsichtige Wissenschaft

„Das ist die neue Normalität“, hören wir häufig, wenn es um die rapiden Veränderungen unserer alltäglichen Wetterverhältnisse geht – Wald- und Buschbrände, Hurrikans, Hitzewellen, Überschwemmungen, Stürme, Dürren und so fort. Diese Wetterereignisse werden nicht nur häufiger, sondern auch immer extremer. Das Wetter scheint auf Steroiden zu sein, und Naturkatastrophen wirken immer weniger natürlich. Aber das ist keineswegs die „neue Normalität“. Was wir derzeit erleben, ist lediglich der Anfang eines Klimawandels, verursacht durch menschliche Emissionen von Treibhausgasen. Bisher wirkten die natürlichen Systeme der Erde als Stoßdämpfer, die die stattfindenden dramatischen Transformationen ausglichen. Aber die Widerstandskraft unseres Planeten, die für uns lebenswichtig ist, wird nicht ewig währen, und die Belege deuten immer klarer darauf hin, dass wir in eine neue Ära dramatischerer Veränderungen eintreten.

Der Klimawandel hat sich schneller als erwartet zu einer Krise entwickelt. So viele Forscherinnen und Forscher, mit denen ich gesprochen habe, haben erklärt, dass sie schockiert beobachtet haben, wie schnell er eskaliert. Aber da die Wissenschaft mit Vorhersagen sehr vorsichtig umgeht, sollte das keine sonderliche Überraschung sein. Eine Folge davon ist jedoch, dass nur sehr wenige wirklich wussten, wie sie reagieren sollten, als die Zeichen in den letzten Jahren offenkundig zutage traten. Und noch weniger hatten sie einen Plan zur Hand, wie sie das, was da passierte, vermitteln könnten. Allem Anschein nach bereiteten sich die meisten auf ein anderes, weniger dringliches Szenario vor. Auf eine Krise, die erst in vielen Jahrzehnten eintreten würde. Und da stehen wir nun. Die Klima- und Ökologiekrise droht nicht erst in einer fernen Zukunft. Sie passiert hier und jetzt.

Foto: Imago/agefotostock

Wenn alle so leben würden wie wir in Schweden, bräuchten wir die Ressourcen von 4,2 Planeten Erde, um uns zu versorgen. Und die im Pariser Abkommen vereinbarten Klimaziele wären nur noch eine ferne Erinnerung – eine Schwelle, die wir viele, viele Jahre zuvor überschritten hätten. Die Tatsache, dass drei Milliarden Menschen pro Kopf und Jahr weniger Energie verbrauchen als ein amerikanischer Standardkühlschrank, vermittelt eine Vorstellung davon, wie weit wir derzeit von globaler Gleichheit und Klimagerechtigkeit entfernt sind.

Die Klimakrise ist nichts, was „wir“ hervorgebracht haben. Die Weltsicht, die in Stockholm, Berlin, London, Madrid, New York, Toronto, Los Angeles, Sydney oder Auckland dominiert, ist in Mumbai, Ngerulmud, Manila, Nairobi, Lagos, Lima oder Bogotá nicht so vorherrschend. Die Menschen in den Teilen der Welt, die für diese Krise am meisten Verantwortung tragen, müssen sich klar machen, dass es auch andere Sichtweisen gibt, und sie anfangen müssen, sich damit auseinanderzusetzen. Denn wenn es um die Klima- und Ökologiekrise – und um die meisten anderen Probleme – geht, verhalten sich viele Menschen in den reichen Wirtschaftsgebieten immer noch, als beherrschten sie die Welt.

Indem der globale Norden die Reste unseres Kohlenstoffbudgets aufbraucht – die maximale Menge an CO2, die wir gemeinsam ausstoßen können, um der Welt eine 67-prozentige Chance zu geben, den globalen Temperaturanstieg unter 1,5° C zu halten –, stiehlt er nicht nur seinen eigenen Kindern die Gegenwart und die Zukunft, sondern vor allem den Menschen, die in den am schlimmsten betroffenen Teilen der Welt leben, von denen viele erst noch die grundlegende Infrastruktur aufbauen müssen, die andere für selbstverständlich halten – Straßen, Krankenhäuser, Stromversorgung, Schulen, sauberes Trinkwasser und Abfallbeseitigung. Dennoch kommt dieser zutiefst unmoralische Diebstahl im Diskurs der sogenannten „entwickelten“ Länder nicht einmal vor.

Die Welt zu retten ist freiwillig. Von einem moralischen Standpunkt ließe sich wohl gegen diese Aussage argumentieren, aber Tatsache ist: Es gibt keine Gesetze oder Vorschriften, die jemanden zwingen, die notwendigen Schritte zur Rettung unserer zukünftigen Lebensbedingungen auf der Erde zu unternehmen. Das ist unter verschiedenen Aspekten ärgerlich, nicht zuletzt, weil – so sehr es mir widerstrebt, es zuzugeben – Beyoncé unrecht hatte. Nicht Mädchen regieren die Welt. Sie wird regiert von Politikern, Konzernen und Finanzinteressen – vorwiegend vertreten von weißen, privilegierten, heterosexuellen Cis-Männern mittleren Alters. Und wie sich herausstellt, sind die meisten von ihnen – unter den gegenwärtigen Umständen – für diese Aufgabe schlecht geeignet. Das mag keine sonderliche Überraschung sein. Schließlich ist der Zweck eines Unternehmens nicht, die Welt zu retten, sondern Gewinne zu machen. Vielmehr so viel Gewinn wie möglich, um die Aktionäre und Marktinteressen zufriedenzustellen.

Montage: der Freitag; Material: Anton Balazh/Adobe Stock

Damit bleiben uns die Politikerinnen und Politiker. Sie haben hervorragende Möglichkeiten, Dinge zu verbessern, aber wie sich herausstellt, ist die Rettung der Welt auch nicht ihre Hauptpriorität.

Die Probleme der Klima- und Ökologiekrise in Angriff zu nehmen bedeutet unweigerlich, sich mit zahlreichen unbequemen Fragen zu konfrontieren. Die Rolle derjenigen zu übernehmen, die die unbequeme Wahrheit sagen und damit ihre Popularität aufs Spiel setzen, steht sicher nicht auf der Wunschliste irgendeines Politikers. Also versuchen sie, sich von diesem Thema fernzuhalten, bis sie es absolut nicht länger vermeiden können – und dann greifen sie zu Kommunikationstaktiken und PR, damit es aussieht, als würden echte Maßnahmen ergriffen, obwohl in Wirklichkeit genau das Gegenteil der Fall ist.

Emissionen schönrechnen

Es macht mir absolut keinen Spaß, den Mist unserer sogenannten politischen Führungskräfte anzuprangern. Ich möchte gern glauben, dass Menschen gut sind. Aber diese zynischen Spielchen nehmen offenbar kein Ende. Würden politische Führungskräfte tatsächlich das Ziel verfolgen, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen, wäre ihr erster Schritt doch sicher, genaue Zahlen zu unseren tatsächlichen Emissionen zu sammeln, um sich einen vollständigen Überblick über das Problem zu verschaffen, und davon ausgehend nach echten Lösungen zu suchen. Das würde ihnen auch eine grobe Vorstellung von den notwendigen Veränderungen, ihren Ausmaßen und dem Tempo vermitteln, mit dem sie umgesetzt werden müssen. Das hat jedoch keiner der Regierungschefs der Welt getan – oder auch nur vorgeschlagen. Oder, soweit ich weiß, überhaupt noch kein Politiker oder keine Politikerin.

Die Journalistin Alexandra Urisman Otto schildert, wie sie mit Recherchen zur schwedischen Klimapolitik begann und herausfand, dass nur ein Drittel unserer tatsächlichen Treibhausgasemissionen in unsere Klimaziele und die offiziellen nationalen Statistiken einbezogen waren. Der Rest war entweder ins Ausland verlagert oder in den Schlupflöchern internationaler Klimabilanzregelwerke versteckt worden. Wenn in meinem „progressiven“ Heimatland über die Klimakrise diskutiert wird, lassen wir also praktischerweise zwei Drittel des Problems aus. Eine umfangreiche Untersuchung der Washington Post wies im November 2021 nach, dass Schweden mit diesem Phänomen keineswegs allein dasteht. Die Zahlen variieren zwar von Fall zu Fall, aber diese Vorgehensweise und die Grundeinstellung, Dinge ständig unter den Teppich zu kehren und anderen die Schuld zuzuweisen, ist international die Regel.

CO₂-Emissionen weltweit in Millionen Tonnen

Grafik: der Freitag

Wenn unsere politischen Führungskräfte behaupten, wir müssten die Klimakrise bewältigen, sollten wir sie fragen, welche Klimakrise sie meinen: die Krise, die all unsere Emissionen einbezieht, oder diejenige, die nur einen Teil von ihnen enthält? Wenn politische Führungskräfte einen Schritt weiter gehen und der Klimabewegung vorwerfen, sie biete keine Lösungen für unsere Probleme an, sollten wir sie fragen, über welche Probleme sie reden: die Probleme, die von all unseren Emissionen verursacht werden, oder nur diejenigen, die sie nicht verlagern oder in den Statistiken verbergen konnten? Denn das sind völlig unterschiedliche Probleme.

Vieles ist notwendig, damit wir anfangen, uns dieser Notlage zu stellen – vor allem erfordert es Ehrlichkeit, Integrität und Mut. Je länger wir damit warten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um unsere internationalen Ziele einzuhalten, umso schwerer und kostspieliger wird es, sie zu erreichen. Die Untätigkeit von heute und gestern muss in der vor uns liegenden Zeit kompensiert werden.

Wenn wir auch nur eine kleine Chance haben wollen, zu verhindern, dass wir irreversible Kettenreaktionen in Gang setzen, die sich jeglicher menschlichen Kontrolle entziehen, müssen wir sofort eine drastische, weitreichende Reduzierung der Emissionen an der Quelle vornehmen. Wenn die Badewanne überzulaufen droht, macht man sich nicht auf die Suche nach Eimern oder legt Handtücher auf dem Boden aus – als erstes dreht man den Wasserhahn ab, so schnell es geht. Das Wasser laufen zu lassen, heißt, das Problem zu ignorieren oder zu leugnen, Schritte zu seiner Behebung hinauszuzögern und die Folgen herunterzuspielen.

Unsere Politikerinnen und Politiker brauchen auf niemanden zu warten, bis sie anfangen, etwas zu unternehmen. Sie brauchen auch keine Konferenzen, Verträge, internationalen Abkommen oder Druck von außen, damit sie echte Klimamaßnahmen ergreifen. Sie können sofort anfangen. Zudem haben sie – und hatten sie schon lange – unendlich viele Möglichkeiten, sich zu Wort zu melden und eine klare Botschaft darüber zu vermitteln, dass wir unsere Gesellschaften grundlegend verändern müssen. Aber, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, haben sie sich bewusst entschieden, es nicht zu tun. Das ist eine moralische Entscheidung, die nicht nur sie in Zukunft teuer zu stehen kommen wird, sondern die das gesamte Leben auf dem Planeten gefährdet.

Laut dem Emissions Gap Report der Vereinten Nationen liegt die geplante weltweite Produktion fossiler Brennstoffe bis zum Jahr 2030 mehr als doppelt so hoch, wie es mit der Einhaltung des 1,5°C-Ziels vereinbar wäre. Auf diese Weise sagt uns die Wissenschaft, dass wir unsere Ziele nicht ohne einen Systemwechsel erreichen können. Denn diese Ziele zu erreichen, würde buchstäblich bedeuten, in einem unvorstellbaren Ausmaß bestehende Verträge, geltende Vereinbarungen und Abkommen zu zerreißen. Eigentlich sollte das jede Stunde unserer täglichen Nachrichten, jede politische Diskussion, jedes Business-Meeting und jede Minute unseres Alltagslebens erfüllen. Aber das geschieht nicht.

Die Medien und unsere politischen Führungskräfte haben die Chance, drastische, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, aber sie entscheiden sich, es nicht zu tun. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Fakten immer noch leugnen. Vielleicht kümmert es sie nicht. Vielleicht sind sie sich der Lage nicht bewusst. Vielleicht haben sie vor den Lösungen mehr Angst als vor dem Problem. Vielleicht befürchten sie, soziale Unruhen auszulösen. Vielleicht befürchten sie, ihre Popularität zu verlieren. Vielleicht sind sie einfach nicht in die Politik oder den Journalismus gegangen, um ein System zu stürzen, an das sie glauben – ein System, das sie ihr Leben lang verteidigt haben. Vielleicht ist der Grund für ihre Untätigkeit auch eine Mischung aus all diesen Faktoren.

Verzweifelter Kampf gegen das Feuer

Foto: Yasin Akgul/AFP/Getty Images

Im heutigen Wirtschaftssystem können wir nicht nachhaltig leben. Aber man sagt uns ständig, wir könnten genau das tun. Wir könnten auf nachhaltigen Autobahnen nachhaltige Autos, betrieben mit nachhaltigem Treibstoff fahren. Wir könnten nachhaltiges Fleisch essen und nachhaltige Erfrischungsgetränke aus nachhaltigen Plastikflaschen trinken. Wir könnten nachhaltige Fast Fashion kaufen und mit nachhaltigen Treibstoffen in nachhaltigen Flugzeugen fliegen. Und natürlich werden wir auch ohne die geringsten Anstrengungen unsere kurz- und langfristigen Klimaziele einhalten.

„Wie?“, mag man fragen. Wie soll das möglich sein, wenn wir noch keine technischen Lösungen haben, die diese Krise allein bewältigen können, und die Option, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun, von unserem gegenwärtigen wirtschaftlichen Standpunkt aus inakzeptabel ist? Was werden wir tun? Nun ja, die Antwort ist dieselbe wie immer: Wir betrügen. Wir nutzen sämtliche Schlupflöcher und alle Mittel kreativer Buchführung, die wir seit der ersten Klimakonferenz COP1 1995 in Berlin in unseren Klimavereinbarungen erfunden haben. Wir verlagern unsere Emissionen zusammen mit unseren Fabriken ins Ausland, manipulieren Basiswerte und fangen an, unsere Emissionsreduzierungen zu zählen, wann es uns am besten passt. Wir verbrennen Bäume, Wälder und Biomasse, da sie aus den offiziellen Statistiken entfernt wurden. Wir speichern Jahrzehnte an Emissionen in der Infrastruktur für fossiles Gas und nennen es grünes Gas. Und den Rest kompensieren wir durch vage Aufforstungsprojekte – Bäume, die vielleicht durch Krankheiten oder Brände verlorengehen –, während wir gleichzeitig unsere letzten Primärwaldbestände noch schneller abholzen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Die richtigen Bäume in den richtigen Boden zu pflanzen ist eine tolle Sache. Es bindet schließlich Kohlendioxid aus der Atmosphäre, und wir sollten es überall dort tun, wo es geeigneten Boden gibt und es für die Menschen, die das Land bestellen, passt. Aber Aufforstung sollte nicht mit Ausgleich oder Klimakompensation verwechselt werden, denn das ist etwas völlig anderes. Das Hauptproblem ist, dass wir bereits mindestens vierzig Jahre an Kohlendioxidemissionen zu „kompensieren“ haben. Es ist alles da oben in der Atmosphäre und wird wahrscheinlich viele Jahrhunderte dort bleiben. Auf dieses historisch freigesetzte CO2 sollten wir uns konzentrieren, wenn wir unsere heutigen – äußerst begrenzten – Möglichkeiten, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu beseitigen, in verschiedenen Projekten wie der Pflanzung von Bäumen einsetzen. Aber dazu ist der Klimaausgleich, wie wir ihn konzipiert haben, nicht gedacht. Er wurde keineswegs geschaffen, um unsere Verschmutzung zu beseitigen. Viel zu oft wird er als Vorwand benutzt, um weiter CO2 freizusetzen, so weiterzumachen wie bisher und dabei das Signal auszusenden, wir hätten eine Lösung und müssten uns daher nicht verändern.

Wir steuern auf 3,2 Grad zu

Worte spielen eine Rolle, und sie werden gegen uns verwendet. Genau wie die Vorstellung, wir könnten nachhaltige Entscheidungen treffen und in einer nicht nachhaltigen Welt nachhaltig leben oder uns durch Kompensation einen Ausweg aus dieser Krise schaffen. Das sind Lügen. Gefährliche Lügen, die zu weiteren katastrophalen Verzögerungen führen. Nach Vorhersagen der Vereinten Nationen werden unsere CO2-Emissionen bis 2030 um weitere 16 Prozent ansteigen. Die Zeit, die uns bleibt, um zu verhindern, dass sich die Klimakatastrophe an vielen Orten der Welt weiter verschärft, läuft rapide ab.

Bei unserem gegenwärtigen Kurs wird die Welt am Ende dieses Jahrhunderts um 3,2° C wärmer sein – und das gilt, wenn die Länder sämtliche beschlossenen Maßnahmen umsetzen, Maßnahmen, die häufig auf mangelhaften und lückenhaften Zahlen basieren. In vielen Fällen tun sie das aber noch nicht einmal annähernd. Wir sind „anscheinend Lichtjahre davon entfernt, unsere Klima-Aktions-Ziele zu erreichen“, wie UN-Generalsekretär António Guterres im Herbst 2021 erklärte. Hinzu kommt unsere bisherige Bilanz des Versagens, wenn es um die Einhaltung all der unverbindlichen Zusagen und Versprechungen geht. Sagen wir, sie ist nicht sonderlich beeindruckend oder überzeugend.

Selbst wenn all diese Dinge einträten, würde es nicht reichen. Nettonull Emissionen im Jahr 2050: das ist schlicht zu wenig, zu spät. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, um unser Schicksal in die Hände noch nicht entwickelter Technologien zu legen. Wir brauchen reale Nullemissionen. Und wir brauchen Ehrlichkeit. Zumindest müssen unsere politischen Führungskräfte anfangen, all unsere tatsächlichen Emissionen in unsere Zielvorgaben, Statistiken und politischen Maßnahmen einzubeziehen. Bevor sie dies tun, ist jede Erwähnung vager Zukunftsziele nichts weiter als eine ablenkende Zeitverschwendung. Es heißt, das Vollkommene solle nicht der Feind des Guten sein. Aber was machen wir, wenn das „Gute“ uns nicht nur keine Sicherheit bietet, sondern auch so weit vom Notwendigen entfernt ist, dass man es nur als Comedy-Stoff bezeichnen kann? Eine sehr düstere Comedy, aber dennoch.

Es heißt, wir sollten kompromissfähig sein. Als wäre die Übereinkunft von Paris nicht schon der größte Kompromiss der Welt. Ein Kompromiss, der bereits unvorstellbar viel Leid für die am stärksten betroffenen Menschen und Regionen in sich birgt. Ich sage: Genug. Ich sage: Haltet stand. Unsere sogenannten Führungskräfte glauben immer noch, sie könnten mit der Physik und den Naturgesetzen verhandeln. Sie sprechen mit Blumen und Wäldern in der Sprache von US-Dollars und kurzfristiger Wirtschaftspolitik. Sie halten ihre Vierteljahresbilanzen hoch, um Wildtiere zu beeindrucken. Sie lesen den Meereswellen Börsenberichte vor wie Narren.

Wir nähern uns einem Abgrund. Und ich würde dringend empfehlen, dass diejenigen von uns, die sich vom Greenwashing noch nicht um den Verstand haben bringen lassen, sich nicht unterkriegen lassen. Lasst nicht zu, dass sie uns auch nur einen Zentimeter näher an den Rand des Abgrunds zerren. Keinen Zentimeter. Genau hier und jetzt ziehen wir die Grenze.

Bei diesem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus Greta Thunbergs Buch, das am 27. Oktober erscheint.

Das Klima-Buch Greta Thunberg Michael Bischoff, Ulrike Bischoff (Übers.), S. Fischer Verlag 2022, 512 S., 36 €

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