Griff nach den Sternen

Portugal In Lissabon beißt die sozialistische Regierung von Premierminister António Costa mit ihrem sozialen Tatendrang vielerorts auf Granit
Ausgabe 47/2016

„Ich hoffe sehr“, sagt die junge Ärztin Maria Ana Aboim, „dass die jetzige Regierung mehr für unser soziales Dasein tut als ihre Vorgänger.“ Sie verdiene als Allgemeinmedizinerin knapp 1.500 Euro im Monat, damit sei in Lissabon heute kein Auskommen mehr.

Dabei ist sie mit ihrer Stelle in einem Klinikum noch privilegiert. Andere Mediziner müssten als Honorarkräfte arbeiten oder mit einem befristeten Arbeitsvertrag ohne große soziale Absicherung auskommen. Unter anderem deshalb haben im zurückliegenden Jahrzehnt mehr als 200.000 junge Portugiesen die Hauptstadt verlassen, im ganzen Land etwa eine halbe Million. Es sind vorzugsweise die 20- bis 35-Jährigen, die auswandern, darunter auch viele von Marias Freunden. Während die Großväter und Väter einst als ungelernte Arbeiter nach Deutschland kamen, um Geld zu verdienen, verlassen heute gut ausgebildete Hochschulabsolventen ihre Heimat und landen im Ausland nicht selten als Aushilfen in Kneipen und Restaurants oder bei Taxiunternehmen.

Revolution jeden Tag!

Ob sich die sozialen Verhältnisse tatsächlich ändern, hängt nicht allein von der Minderheitsregierung unter dem sozialistischen Premier António Costa, sondern ebenso vom ökonomischen Zustand des Landes wie von dem Zertifikat ab, das internationale Ratingagenturen erteilen. Entscheidend wird sein, wie viel Zeit der konservative Präsident Marcelo Rebelo de Sousa der jetzigen Regierung einräumt.

Dank der Einnahmen aus dem Fremdenverkehr hat Portugal 2014 den europäischen Rettungsschirm verlassen. Gäste aus aller Welt finden wieder mehr Gefallen an Lissabon. Hier wird Haschisch legal erworben. Wer es härter mag, findet sich am frühen Abend am Cais do Sodré ein, wo die vermeintlichen Glücksbringer, die bevorzugt mit Alkohol konsumiert werden, offen angeboten werden. Die Mitarbeiter der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die in Lissabon ihr Domizil hat, könnten – wenn sie denn wollten – in der Gegend ihre Feldstudien betreiben, ohne dass sich die zumeist jungen Händler bei ihren Deals stören ließen.

Auch nach der Saison sind die Restaurants noch gut gefüllt, und man wartet geduldig, bis ein Tisch frei wird. An manchen Tagen legen bis zu drei Kreuzfahrtschiffe im Hafen entlang der Viertel Alcântara und Santa Apolónia an. Tausende Passagiere überschwemmen dann überfallartig die Altstadt und quetschen sich in die Straßenbahnen, die von den Guardafreios, den Hütern der Bremsen, durch die Altstadt gefahren werden. „Für uns Lissabonner“, klagt Maria Ana Aboim, „bleibt dann kein Platz mehr, um zur Arbeit zu fahren oder Besorgungen zu machen.“ Über das Jahr verteilt steuern die Stadt mehr als dreihundert Kreuzfahrtschiffe an. Verächter dieses Booms, die auf ihren Fahrzeugen einen Aufkleber mit dem Slogan „We hate tourism!“ angebracht haben, entrüsten sich, Lissabons historisches Zentrum sei viel zu klein und zu kostbar, um von Touristen überrannt zu werden. Noch einmal die Ärztin: „Dadurch bekommt Lissabon ein völlig neues Gesicht. Langsam verliert es den Charme der Menschen, die hier einmal gewohnt haben.“

Die portugiesische Hauptstadt liegt weder am Rand Europas, noch ist sie eine Insel, wie es einst Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Portugiesische Grübeleien behauptet hat. Im Augenblick profitiert die heimische Tourismusbranche vom schwindenden Reiz begehrter Reiseziele in den Regionen Nordafrikas oder der Türkei, die vermehrter Terrorgefahr ausgesetzt sind. Umso stärker will sich Lissabon als Hort der Ruhe und Stabilität empfehlen. Derzeit jedenfalls ruft die Linksallianz Bloco de Esquerda – sie sichert neben den Kommunisten dem sozialistischen Premier die parlamentarische Mehrheit – kaum noch zu Demonstrationen auf. Und Parolen an den Hauswänden verblassen, mit denen die EZB beschimpft und eine „Revolution jeden Tag!“ (Revolução cada dia!) beschworen wird.

Wäre die so verkehrt? Lissabon zählt heute zu den Metropolen Europas, in denen die soziale Zerklüftung unübersehbar ist. Auf dem Platz vor dem Nationaltheater bekommt man im legendären Café Nicola den Kaffee und die Pastéis de Nata, die kleinen, mit Sahnepudding gefüllten Blätterteigtaschen, von Kellnern in schwarzem Anzug mit Krawatte serviert, während in Sichtweite am Standbild des Dom Pedro die Ärmsten der Armen von einer Gruppe, die sich Vida e Paz nennt, versorgt werden. Es gibt Tee, Blutdruck und Puls werden gemessen, Verletzungen untersucht und Verbände angelegt, sofern nötig. Ist der Zustand eines Obdachlosen bedrohlich, wird die Einweisung in eine Klink betrieben. Ganz in der Nähe, auf dem Balkon des Opernhauses, stimmt ein Trio, bestehend aus einem Pianisten, einem Bassisten und einem Schlagzeuger, auf die Aufführung des Abends ein. In Hörweite der musikalischen Erbauung kann man sich von Halbwüchsigen die Schuhe putzen lassen.

Tragischer Ausverkauf

Wer dabei in den Himmel blickt, sieht außer Sternen die Beleuchtung der vielen Baukräne, die in den engen Gassen der Altstadt den Verkehr behindern. Der Staat fördert die Renovierung alter Häuser, indem er die Eigentümer steuerlich begünstigt. Stehen Gebäude leer, werden oft Türen und Fenster zugemauert, damit sich keine ungebetenen Gäste einstellen. An den Hauswänden sieht man Tafeln mit dem Wort „restyling“, doch führt die Vorsilbe „re“ in die Irre. Viele Häuser werden nicht rekonstruiert, um den alten Zustand wiederherzustellen, sondern komplett „entkernt“. Das ist der gebräuchliche Ausdruck, doch träfe das Wort „ausweiden“ besser, was geschieht. Allein alte Holzbalken werden wiederverwendet, während ansonsten in der Phase des Umbaus nur die kachelverzierten Hauswände noch stehen, abgestützt durch schwere Eisenträger.

Geht man die steile Rua da Bica de Duarte Belo hinauf, geraten Baustellen ins Blickfeld, auf denen außer den vier Wänden eines Hauses, einem Kran, einem Sicherungskasten und einem Erdloch, dem Vorboten einer Tiefgarage, wenig zu sehen ist.

In der Regel werden die Altbauen mit modernen, großen Wohnungen ausgestattet, die jeglichen Komfort bieten. Am Ende mutet von außen alles tatsächlich „restyled“ an, hat aber mit dem ursprünglichen Zustand nicht mehr viel zu tun. Die Kacheln wurden auf Hochglanz gebracht, die Fenster mit Plastikrahmen versehen, alte, schmale Hauseingänge als Dekoration entwertet, weil der Zugang über die Tiefgarage erfolgt. Der Wohnraum in Altstadtvierteln wird Tag für Tag unerschwinglicher.

Ob künftig noch die gelbe Standseilbahn Elevator da Bica gebraucht wird, die einst in England gebaut wurde und seit 1892 die alten Leute den Berg hinauf- und hinunterbefördert, ist zweifelhaft. Die neuen Bewohner bevorzugen große SUVs in Metallic, die gerade so um die Ecken der schmalen, mit Basalt- und Kalkstein gepflasterten Straßen kommen. Kleine Geschäfte, in denen bisher Reis und getrockneter Stockfisch neben Kämmen, Haarklammern, Pinzetten und Handspiegel verkauft wurden, weichen Boutiquen und Bars. Zum Leben in diesen Vierteln gehörten während der NS-Zeit Tausende von Flüchtlingen, die verzweifelt auf ihre Transitvisa warteten, die sie in eine Welt ohne Todesangst bringen sollten.

Über kurz oder lang wird auch die Ärztin Maria, die ihre Stadt so liebt und die aus dem Ausland zurückgekommen ist, um in Portugal zu bleiben, an die Peripherie ziehen. Andererseits, sagt sie, hätten Freunde von ihr während der schlimmsten Zeit der Krise, als die Arbeitslosigkeit am höchsten war, ihre Wohnungen in der Innenstadt an Touristen vermietet und seien so über die Runden gekommen.

Vom Miradouro da Senhora do Monte sieht man nicht nur die imposante Burg, sondern nimmt auch die abgeschlossenen Renovierungsprojekte dank der neuen hellen Ziegeldächer wahr. Die im Bau befindlichen erkennt man an den Löchern, die sie ins Stadtbild reißen, oder an den grauen flatternden Abdeckungen. Um Schulden abzubauen, hat der Staat in den vergangenen Jahren viele Häuser versteigern lassen, die größtenteils in den Besitz von chinesischen Geschäftsleuten übergingen. Auf der Homepage von Central Lisbon Real Estate konnten sie erfahren, wer mindestens 500.000 Euro investiert, bekommt ein „Goldenes Visum“, auch bekannt als „investor visa program“. Der Inhaber eines solchen Dokuments kann in Portugal leben, sich innerhalb der EU frei bewegen und seine Familie mitbringen. Nicht allein chinesische Investoren sind interessiert, in Lissabon ihr Geld anzulegen. Eine große deutsche Immobilienfirma wirbt für die Stadt mit dem Slogan: „You only live once, we show you where!“

In unserem Gespräch meint die Ärztin Maria lächelnd, die Portugiesen seien die anpassungsfähigsten Menschen in Europa. Ob sie sich auch mit dem sich wandelnden Lissabon abfinden, bleibt abzuwarten. Solange freilich aus der Brüsseler EU-Zentrale keine Signale für einen Schuldenschnitt kommen, gibt es für den teilweisen Ausverkauf wohl keine Alternative. Der Nationaldichter Fernando Pessoa, berühmtester Vertreter der Saudade, des Weltschmerzes, der in der Stadt immer noch allgegenwärtig ist, hat für eine solche Art von Politik das Wort „trockenherzig“ verwendet.

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