„Größer als im Alltag“

Interview Eigentlich wollte Maria Speth einen ganz anderen Film als „Herr Bachmann und seine Klasse“ drehen
Ausgabe 36/2021

Wie mitreißend und engagiert Unterricht sein kann, zeigt die faszinierende Langzeitdoku Herr Bachmann und seine Klasse über einen außergewöhnlichen Lehrer und seine Schüler*innen an einer hessischen Gesamtschule. Mit unaufdringlichem Blick und großer Empathie hält die Filmemacherin Maria Speth Alltag, Rituale und Begegnungen dieser Institution fest und liefert damit nebenbei ein größeres Bild unserer multikulturellen Gesellschaft. Im März wurde bei der Berlinale mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.

der Freitag: Frau Speth, im Sommer konnten Sie endlich „Herr Bachmann und seine Klasse“ dem Publikum präsentieren. Stimmt es, dass es Ihr erster Film ist, bei dem gelacht wurde?

Maria Speth: Ja, das war ein gutes Gefühl, im Kino zu sitzen und die Leute lachen zu hören! Besonders wenn man so lange an einem Film gearbeitet hat. Wir haben von Januar bis Juni 2017 gedreht und die Montage habe ich kurz vor der Berlinale 2021 abgeschlossen. Insgesamt gesehen war das also weniger lustig. Aber schon während der Dreharbeiten, beim Musterschauen, gab es immer wieder Szenen, die uns sehr zum Lachen brachten. Wir haben dann gescherzt, dass dieser Film meine erste Komödie werden wird. Schön, dass sich das ein Stück weit eingelöst hat.

Wie kamen Sie darauf, ausgerechnet im hessischen Stadtallendorf zu drehen?

Ich kenne Dieter Bachmann privat, er ist ein Freund von Reinhold Vorschneider, meinem Kameramann. Er hat mir immer wieder fasziniert von dieser Stadt und ihrer besonderen Migrationsgeschichte erzählt. Ich bin dann hingefahren und war interessiert, darüber einen Film zu machen. Damit war der Ort Stadtallendorf als erster Protagonist gesetzt. Ich stellte mir dann die Frage: Wie ist das mit der ersten Liebe Jugendlicher an so einem Ort, wo so viele Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln leben? Was ergeben sich für Probleme, wenn zum Beispiel ein türkischer Junge ein russischstämmiges Mädchen liebt? Dieter Bachmann war bereits damals Teil des Projekts, das eine Adaption von Romeo und Julia sein sollte, übertragen auf das heutige Stadtallendorf. Aber ich bekam nicht genug Finanzierung dafür, und weil ich ja unbedingt einen Film über diesen Ort machen wollte, musste ich den thematischen Schwerpunkt ändern. Ich habe dann entschieden, dass wir das Schulleben, den Schulalltag der 6. Klassen beobachten.

Sie wussten vermutlich vorher, dass Dieter Bachmann ein toller Lehrer ist. Aber war Ihnen auch klar, was für ein toller Protagonist er sein würde?

Ja schon, bei der Verschiebung des thematischen Kerns wusste ich das. Dieter bringt ganz viel von sich in den Unterricht ein, das ist ja das Besondere, dass er sich als ganzer Mensch zeigt. Aber ich wollte keinen Film über den Lehrer Bachmann machen, sondern über den multikulturellen Mikrokosmos dieses Klassenverbands. Manche sind stiller, manche lauter, aber jeder hat seine Rolle und jeder ist wichtig für das Funktionieren dieser Gruppe und den Zusammenhalt.

Zur Person

Maria Speth, 1967 im niederbayrischen Tittling geboren, hat mit Madonnen (2007), Neun Leben (2011) und Töchter (2014) mehrere Spiel- und Dokumentarfilme realisiert, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden

War das Alter der Schüler*innen eine bewusste Entscheidung?

Nein, aber rückblickend bin ich sehr froh, dass wir mit Kindern im Alter von zwölf bis 14 gedreht haben. Es gab schon beim Drehen meine Affinität zu den Protagonisten, aber während der Montage habe ich mich regelrecht verliebt. Die Kinder sind für mich die Stars des Films. Ihre offenherzige, ehrliche Art und ihre Energie, das ist es, was den Zauber des Films für mich ausmacht.

Wussten die Kinder, welche Art Film Sie drehen wollen?

Ich glaube, die Kinder haben zunächst gar nicht richtig verstanden, warum wir drehen. Warum sollte es interessant sein, wenn wir ihren Unterricht filmen? Dann habe ich gesagt: Wir wollen einfach sehen, wie ihr hier Schule macht und wie das in eurer Klasse funktioniert. Das fanden sie komisch, aber damit war es das auch.

Sehr beeindruckend sind die Szenen auf der Klassenfahrt, in denen man die Gruppendynamik hautnah miterlebt und auch sieht, wie Konflikte bewältigt werden ...

Es ist immer eine Gratwanderung, wie findet man einen guten Weg, niemanden aus- oder bloßzustellen? Es war mir trotzdem auch sehr wichtig, dass man Konflikte und Widersprüche wahrnehmen kann. Aber damit muss man eben sehr behutsam umgehen.

Wann und wie haben die Kinder dann den Film gesehen?

Während der langen Zeit der Montage hatte ich keinen Kontakt, weil ich mich nur darauf konzentrieren konnte. Da haben die Kinder wahrscheinlich gedacht, ich hätte sie vergessen und da wird nie ein Film kommen. Ich hatte auch selbst nicht damit gerechnet, dass das vier Jahre dauert nach den Dreharbeiten. Statt der 12- bis 14-Jährigen waren es jetzt 16- bis 18-Jährige, mit denen wir uns im Mai getroffen und gemeinsam den Film im Kino geschaut haben. Es war mir sehr wichtig, dass sie sich auf der großen Leinwand sehen konnten. Größer als in ihrem Alltag. Ich wollte ihnen damit ein Geschenk machen, ihnen etwas zurückgeben. Es war richtig toll. Sie haben einfach so eine offene, direkte, herzliche Art, immer noch. Jamie zum Beispiel hatte Angst, dass er schlecht wegkommt, aber ich habe versucht, ihn zu beruhigen. Und nach dem Film war er ganz berührt und glücklich.

Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, aus Jamie einen Bösewicht zu machen …

Aber warum sollte ich? Mir ging es ja gerade darum, die Vielschichtigkeit der Charaktere sichtbar zu machen. Vielleicht fliegen Jamie nicht sofort die Sympathien zu, aber wenn ich dann sehe, wie er sich zu Konflikten auf der Klassenfahrt am Ende des Films verhält, schließt man ihn doch ins Herz. Ich finde, es gehört dazu, eine abweichende Meinung zu haben und dass sie nicht von vornherein einfach abgewertet wird. Ich habe Jamie dafür bewundert, dass er sich traut, was zu sagen. Und andererseits hat er aber auch immer zugehört. Das schätze ich auch an der Arbeit von Dieter Bachmann, dass er diese Gesprächskultur befördert. Jede Meinung hat das Recht, gehört zu werden, die kann man teilen oder auch nicht, aber es muss möglich sein, sie zu äußern.

Der Film zeigt auch, was in der Schule alles möglich ist. Ganz im Gegensatz zum Diskurs während der Pandemie, in dem Schule nur als dysfunktional vorzukommen scheint. Wollten Sie dem bewusst etwas entgegensetzen?

Die Dreharbeiten waren ja bereits 2017. Mir ging es überhaupt nicht darum, ein neues Schulsystem zu feiern oder das bestehende zu kritisieren. Dass Schule jetzt als sozialer Raum – im Kontext der Pandemie – als besonders wichtig wahrgenommen wird, das habe ich meinerseits ja nicht beabsichtigt. Aber im Resultat ist es so, dass der Spielraum für Soziales eine besondere Qualität des Klassenlebens in der 6 B ist. Und dass es neben der Erfüllung des Lehrplans viel Zeit dafür gibt, ist im Besonderen ein Verdienst des Lehrers Bachmann.

Er kann auch streng sein.

Aber das ist auch total wichtig. Ich habe große Achtung vor dem Beruf des Lehrers. So einer Gruppe von Schüler*innen gerecht zu werden und eine gute Balance zu finden, dafür braucht es auch Struktur, sonst tanzen alle auf den Tischen. Außerdem gibt es ja Unterrichtsstoff, der vermittelt werden muss, Lehrplan und Noten. Der Unterschied ist vielleicht, dass Dieter Bachmann mit den Kindern darüber spricht, wie schwierig und belastend es für ihn ist, Noten und Bewertungen zu geben. Er macht es aber dann doch, muss es machen, und es ist in Ordnung.

So eine Langzeitdokumentation ist auch Lebenszeit. Was muss ein Thema haben, dass Sie so viel Zeit damit verbringen wollen?

Manchmal gerät man einfach in solche Situationen. Das Problem war von Anfang an das geringe Budget. Ich musste sehr viel in Personalunion machen. Und die große Herausforderung waren dann die 200 Stunden Material, die wir gedreht haben ... da das Ziel nicht auf aus den Augen zu verlieren. Und ich muss sagen, dass die Kinder mir dabei sehr geholfen haben, weil ich mich jeden Arbeitstag gefreut habe, sie zu sehen. Das ist schon ein echtes Pfund für den Film, wenn man so lange an der Montage arbeitet und sich immer noch freut. Da wusste ich, das Material hat Relevanz und Kraft. Trotzdem war es aber auch ein hartes Stück Arbeit.

Das Gespräch führten Thomas Abeltshauser und Barbara Schweizerhof

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