Eigentlich würde man sich ja öfter mal Bücher wünschen, die allein vom Umschlag her bereits einen sinnlichen Genuss vermitteln. Karl Schlögels Buch Im Raume lesen wir die Zeit ist ein solches "Objekt" - es hat einen transparenten Umschlag mit der Schrift darauf und darunter schimmert auf den Deckeln eine leicht altertümlich kolorierte Karte von Berlin durch. Zweifellos passt der ambitionierte Umschlag zur Intention des Werkes: Denn Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und streitbarer Zeitgenosse, hält in diesem Buch ein Plädoyer fürs "Kartenlesen" - als Exploration des in der Geschichtswissenschaft vergessenen Raumes - und für die "Augenarbeit" - al
beit" - als Mittel zu einer von den Sinnen und weniger von den Begriffen gesteuerten Form der Erkenntnis.Beides steht in einem Kontext, den Schlögel "die Wiederkehr des Raumes" nennt. Für dieses Wiederauftauchen gab es, wie er schreibt, vor allem zwei "Lehrstücke": Das eine war der Fall der Berliner Mauer 1989 und der andere die Explosion des World Trade Center 2001. Diese Zusammenbrüche sind nicht nur Ereignisse in der Zeit, meint Schlögel, welche aus dem Lauf der Geschichte erklärt werden können, nein, sie wirken auch als "Raumrevolutionen" - als Punkte, von denen aus "die Welt, in der wir von nun an leben, neu vermessen wird". Und wenn die Geschichtswissenschaft an diesen Punkten ansetzt, so der Autor, dann erlebt sie nicht weniger als "die Erneuerung der geschichtlichen Erzählung selbst".Das ist nun zweifelsohne ein interessantes Projekt, doch Schlögel inszeniert seine "Erneuerung" in der Folge ein wenig zu vollmundig. Gleich am Anfang vergleicht er seine Arbeit mit der Südamerikareise Alexander von Humboldts, jenem "monumentalen Projekt". Später appelliert er an seine Generation - eine "Generation von Kapital-Schulungsteilnehmern" - sie brauche dringend eine Dosis Abenteurertum: "Wenn wir doch ein wenig mehr von Kolumbus, Carl Ritter, Alexander von Humboldt an uns hätten und weniger von Buchhaltern und Kontrolleuren". Nun ist Kolumbus zweifellos ein höchst ambivalentes Vorbild für das Schlögelsche Projekt. Zum einen finden die Nachkommen derjenigen, die von ihm "entdeckt" wurden, ganz sicher nicht, dass seine Version von Forschung als Richtschnur für die Historiographen dienen sollte. Zum anderen wissen wir aus Kolumbus´ Bordbuch, dass er erstaunlich wenig sinnliche Erlebnisse hatte - ihm ging es hauptsächlich um Besitzergreifung.Möglicherweise geht es Schlögel auch darum. Denn während er seiner Generation von "Kapitallesern" die Leviten liest, stellt er sich gerade mit seinem Plädoyer für die Beachtung des Raumes in eine deutlich neomarxistische Tradition. Die war schon angelegt in der Weltsystemtheorie Wallersteins, in den Dependenzansätzen von Gunder Frank und Amin oder in dem Raumreflexionen des späten Lefèvre. Erneuert wurde sie in den Vereinigten Staaten vor allem durch Edward Sojas Buch Postmodern Geographies, das 1989 erschien. Seitdem hat die Untersuchung von "spatiality" - "Räumlichkeit" - als soziales Produkt und als formende Kraft ihren festen Platz in der englischsprachigen Stadtsoziologie. Und in der deutschsprachigen. Doch die hiesige langjährige Arbeit über Räumlichkeit wird von Schlögel komplett ignoriert - Namen wie Walter Prigge, Klaus Ronneberger oder Roger Keil sucht man in seinem Buch vergeblich. Gleichzeitig verkauft Schlögel den "spatial turn" nicht als Ergebnis theoretischer Überlegungen und empirischer Forschung, sondern als etwas, dass durch "große Ereignisse" in der Realität schlicht und ergreifend stattfindet. Die Bücher der Zeitgenossen wie Edward Soja haben dann selbst kaum noch etwas Revolutionäres geleistet - sie werden einfach zum "besten Beleg dafür, dass wir längst inmitten des spatial turn stehen".Aber möglicherweise ist die Berufung auf die großen Ereignisse auch nur strategisch motiviert: Denn Schlögel möchte offenbar in seinem Fach, der Geschichtswissenschaft, als Stichwortgeber fungieren. Im nächsten September, auf dem 45. Deutschen Historikertag, heißt das Thema nämlich: "Kommunikation und Raum". Daher muss man dieses Buch wohl als erweitertes Thesenpapier lesen. Die 570 Seiten wirken wie eine erste Materialsammlung zum Gegenstand; ein eher unsystematischer "Steinbruch", wie Schlögel gleich zu Beginn betont. Hunderte von Seiten präsentiert er Literatur vornehmlich aus dem angloamerikanischen Bereich zu den unterschiedlichsten Formen von Karten. Der Teil über die "Augenarbeit" ist auch eher ein Aufruf, sich endlich mit Oberflächen wie Landschaften, Orten, Stadtplänen, Grundrissen, Interieurs, Adressbüchern, Fingerabdrücken etcetera zu beschäftigen. Das alles ist nicht immer gleich interessant und selten wirklich originell, aber man folgt Schlögels Ausführungen gerne, wenn er etwa den Philo-Atlas, das Handbuch für die jüdische Auswanderung aus dem Jahre 1938 analysiert oder auch den Atlas des Imperialismus und der Arbeiterbewegung; wenn er Berliner Adressbücher durchstöbert oder die Kursbücher der Bahn. Über der Ausbreitung dieses Materials - und das war in methodischer Hinsicht durchaus entscheidend - vergisst er eine theoretische Einordnung der deutschen Traditionen des Raumdenkens nicht, die ja viel zu tun hatten mit einer "Ideologisierung des Raums" während des Nationalsozialismus.Mit Michel Foucaults Archäologie des Wissens hat Ulrich Raulff das Buch von Schlögel in einer Rezension verglichen, doch um sich an Foucaults Methodenbuch zu messen, müsste Im Raume lesen wir die Zeit weitaus systematischer sein. Auf der anderen Seite fehlt dem Buch aber auch jener "kräftige Schuss Materialismus", den Schlögel zu Beginn so vehement einfordert. Immer wieder einmal stößt man plötzlich auf unbewiesene Thesen von atemberaubender Reichweite: Der Terror der Stalinzeit, behauptet Schlögel etwa apodiktisch, sei auch der verzweifelte Versuch gewesen, nicht vor dem "Horror vacui" des unendlichen russischen Raumes zu kapitulieren. Die seltsame Abwesenheit des Materiellen ist eigentlich kein Wunder, denn im Gegensatz zum überwiegenden Teil der englischsprachigen Literatur, die er zitiert, ist Schlögels Anliegen weiterhin das große Ganze: "Das Hauptthema, um das es hier geht", schreibt er, "ist die Frage nach der Möglichkeit einer Großen Erzählung nach dem Ende der Großen Erzählungen". Mit weniger gibt man sich halt als Akademiker im Lande der Dichter und Denker nicht ab. Doch vielleicht wäre es nicht schlecht, die Postmoderne erst einmal am eigenen Leib zu erleben, bevor man sie schon ad acta legt - indem man ein "spezifischer Intellektueller" (Foucault) wird und etwas bescheidenere Exkursionen in die Realität unternimmt. Und daraus die Theorie entwickelt oder anpasst, die man für solche Forschung braucht. Ausgerechnet Karl Schlögel hat in einer Reihe seiner anderen Büchern bewiesen, wie man genau das in die Tat umsetzt.Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser, München 2003, 566 S., 25,90 EUR
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